Eva Neumayr: War Joseph Mohr (1792-1848) auch Komponist?
Seit sich mit den Forschungen über Verbreitung des beliebten Weihnachtslieds "Stille Nacht! Heilige Nacht!" auch der Textdichter Joseph Mohr (1798-1848) im Mittelpunkt des Interesses befindet, ist immer wieder vermutet worden, dieser habe auch komponiert, ja er sei sogar der Komponist des berühmten Liedes gewesen. Während die Streitigkeiten um die Urheberschaft der Komposition von "Stille Nacht" seit 1995, mit dem Finden der ältesten Niederschrift des Weihnachtsliedes von der Hand Joseph Mohrs wohl als beantwortet gelten können (1), so soll doch hier die Annahme, Mohr sei auch Komponist gewesen, nochmals untersucht werden.
Joseph Mohr war bereits in jungen Jahren musikalisch aktiv: Aus dem Catalogus musicorum der Erzabtei St. Peter in Salzburg wissen wir, dass er 1807 als Sopran Sänger und Violinist in den Chor eintrat und ihn 1808 wieder verließ, weil er im Stiftsgymnasium Kremsmünster - ebenfalls als Musiker - aufgenommen worden war und dass er gleichzeitig Musiker an der Salzburger Benediktineruniversität gewesen sein muss. Er dürfte sich durch diese Dienste sein Studium in Salzburg und Kremsmünster zumindest teilweise finanziert haben.
Dass er musikalisch überdurchschnittlich interessiert war, belegen mehrere Abschriften von seiner Hand. 1813 kopierte "Josephus Mohr, Alumnus" ein Offertorium des Salzburger Hofkapellmeisters Luigi Gatti (1744-1817), "O Jesu mi dulcissime"(2) und übersetzte vielleicht den Lateinischen Text ins Deutsche (3). Die Abschrift zweier Lieder P. Virgil Fleischmanns OSB (1783-1863) aus Göttweig, die Joseph Mohr 1822 als Coadjutor in Anthering abschrieb, finden sich im Musikarchiv der Erzabtei St. Peter (4).
Folgende Antwort des Dekanatsprovisors von St. Georgen, Thaddäus Gober, auf die Beschwerde Georg Heinrich Nöstlers, Joseph Mohrs Vorgesetzter in Oberndorf, an das Konsistorium, Mohr scheine seiner Vorliebe für Musik alles aufzuopfern (5), beleuchtet sein Verhältnis zur Musik und deren Ausübung um 1818:
"Es ist übrigens wahr, Coadjutor Mohr liebt Unterhaltungen, und besonders musikalische, nimmt daher gar gerne derley Einladungen an, und läßt sich sowohl in Kirchen, als auch in musikalischen Gesellschaftszirkeln in der Nachbarschaft gerne verwenden." (6)
Sein Interesse für Musik ist wohl auch die Ursache, dass er von 17. November 1841 bis 1. Jänner 1843 "wirkliches unterstützendes Mitglied" des damals noch jungen "Dommusikverein und Mozarteum" war (7). Abgesehen von dieser Erwähnung ist in den Archivalien aus den verschiedenen Pfarren in denen er gewirkt hat, im Zusammenhang mit Joseph Mohr bis zu seinem Tode 1848 nie mehr von Musik die Rede, geschweige denn wird er als Komponist bezeichnet (8).
Die früheste Andeutung einer Kompositionstätigkeit Joseph Mohrs stammt aus dem Jahr 1873, aus einer zunächst nur mit "R." signierten Zuschrift an die "Salzburger Chronik", als deren Autor später Sebastian Rußegger, damals Pfarrer in Neumarkt am Wallersee identifiziert werden konnte (9), welcher folgenden, von einem "Hw. Herrn Nachbarn, der aber auch schon vor 16 Jahren gestorben" gehörten Sachverhalt berichtet:
"Herr Mohr hat aber nie bewogen werden können, seine Musikalien drucken zu lassen." (10)
Auf die mündliche Überlieferung in Mohrs letzter Wirkungsstätte Wagrain beruft sich Joseph Schwarzbuch 1898, wenn er berichtet:
"Dass er ein großer Musikfreund gewesen, wird noch heute in Wagrein [sic!] bestätigt. Nicht nur mit Singen, auch auf der Orgel und mit der Clarinette habe er am Chore gewirkt, auch soll er noch andere Lieder als das Weihnachtslied gemacht haben." (11)
Das folgende Zitat aus einem Aufsatz von Hermann Spies ist symptomatisch für die Vermischung von Gerüchten, mündlicher Überlieferung und Tatsachen, die in dieser Frage immer wieder verbreitet werden. Hermann Spies trägt die Vermutung, Joseph Mohr habe außer "Stille Nacht noch andere geistliche Lieder verfaßt" weiter - ob damit das Verfassen des Textes oder die Komposition der Lieder gemeint sind, bleibt indes offen.
"Der Dichter von "Stille Nacht, heilige Nacht" soll auch mehrere andere geistliche Lieder verfaßt haben; in geistlichen Kreisen schalt (!) man ihn oft mit "Dichternarr"! Auch als fertiger Orgelspieler tat er sich hervor und zeigte für Musik großes Interesse: er war Mitglied des 'Dommusikvereins und des Mozarteums in Salzburg'". (12)
Wie Joseph Schwarzbuch beruft sich Karl Heinrich Waggerl fünfzig Jahre später auf mündliche Überlieferung aus Mohrs letzter Wirkungsstätte, Wagrain.
"Nur wenig von seinen musikalischen Werken hat sich noch finden lassen, obwohl die ältesten Chorsänger der Wagrainer Pfarre sich recht gut entsinnen können, daß der Vikar ein großes instrumentiertes Tantum ergo, eine Festmesse, ein schönes Osterlied und ein anderes mit dem Titel 'Verzage nicht' selbst komponiert habe. Er hat es ja auch als einer der ersten wieder gewagt, Messen und Lieder in der Muttersprache auf dem Chor singen zu lassen, was seit den protestantischen Wirren streng verboten war, und die 'Prangmusik', die noch heutzutage bei den großen Umzügen zu Fronleichnam und Mariä Heimsuchung das Allerheiligste festlich begleitet, ist ebenfalls ihm zuzuschreiben." (13)
Sowohl Schwarzbuch als auch Waggerl tragen einige "Tatsachen" zur Biographie Joseph Mohrs bei, die sich in den Dokumenten, die aus seinem Leben bisher bekannt sind, nicht verifizieren lassen. So soll Mohr laut Schwarzbuch neben den Instrumenten, die er bekanntermaßen beherrscht hat, nämlich die Violine, mit der er sich in seiner Gymnasialzeit seinen Unterhalt verdiente, und der Gitarre, mit der er die Uraufführung von "Stille Nacht! Heilige Nacht!" begleitet haben soll [!], auch noch Klarinette und Orgel gespielt haben.
Waggerls Behauptung, dass Mohr es als erster wieder gewagt habe "Messen und Lieder in der Muttersprache auf dem Chor singen zu lassen, was seit den Protestantischen Wirren streng verboten" gewesen sei, ist musikhistorisch nicht haltbar, da seit Erzbischof Hieronymus Colloredos Hirtenbrief von 1782 kein anderer als deutscher Gesang in den Kirchen des Landes Salzburgs erlaubt war. Ausgenommen waren lediglich die Stifts- und Klosterkirchen, und alle Kirchen, wo ein "ordentlicher Chor gehalten wird" (14). In Wagrain war es während der Wirkungszeit Joseph Mohrs sicher nicht üblich, lateinische Messen zu singen, zumal es in dieser Zeit, wie mehrere Bürger der Gemeinde in einem Visitationsprotokoll von 1841 (15) übereinstimmend berichten, um die Musik, die vom Lehrer/Meßner Fasching und seinem Gehilfen Bergler versehen wurde, sehr schlecht bestellt war.
"S|n Durchlaucht predigten und firmten 230 Kinder. Die Gemeinemänner von Wagrain werden venommen [...]
11. Martin Schwarz Schattauer Wirth | und Kammerer des Marktes Wagrain: [...] Die Musik ist in einem schlech= | ten Stande. Fasching und Adstant bey | [...] leisten wenig in der Musik. Es | dürfte ein Adstant, der in der Musik | thaätiger und geschickter wäre, nach Wag: | rain versetzt werden
13. Joseph Oberpichler Schmidmeister an | der Adlerschmide, Vorstand der | Bauerngemeinde Hofmark.: [...] Michael Fasching ist ein nachlässiger Mesner mit einem [...] | Gesichte. Adstand Bergler leistet ebenfalls wenig im | Unterrichte u: in der Musik, man wünscht seine Versetzung, Die Kinder haben wenig Achtung gegen den | Adstanten, der jedoch eine gute Aufführung hat.
14. Johann Musterhofer, Schneider | meister in Wagrain, Polizey | kommisär u: 2/ter Zechprobst bey | der Vikariatskirche Wagrain.: [...] 'Adstant Bergler weiß sich vor den Kindern wenig Ansehen zu geben, daher fürchten ihn auch die Kinder nicht; zugleich ist er ein sehr schwacher Musiker.'
15. Franz Göschl, Kupferschmid in Wagrain, Armenvater.: [...] Adstand bergler dürfte zu seinem besten, um noch [...] zu lernen, zu einem Thätigeren und geschickteren Lehrer u: Musiker versetzt werden."
Dass keiner der Gemeindevorstände während dieser Visitation Erzbischof Friedrich Fürst zu Schwarzenbergs (1809-1885) (16) Joseph Mohr auch nur als Musiker erwähnten, lässt nicht darauf schließen, dass er als Vikar in Wagrain musikalisch aussergewöhnlich engagiert gewesen wäre.
Karl Heinrich Waggerl nennt nun 1948 mehrere Werke, die von Joseph Mohr stammen sollen:
1. Ein "großes, instrumentiertes Tantum ergo"
2. Eine Festmesse
3. Ein schönes Osterlied
4. Ein Lied mit dem Titel "Verzage nicht"
5. Eine Prangmusik
Ad. 1.: In einem "Verzeichnis der zur Pfarrkirche Wagrain gehörenden | vorhandenen Noten" vom 30. September 1882 (17), geschrieben von "Matthias Reisenberger / Mesner [gestrichen:] u. Organist." steht auf S. 4 links unten "Außerdem ein Tantum ergo / von H. Hon. Vikar Mohr in Es". Zudem ist auf S. 3 ist unter der Überschrift "Litaneien" unter 5. eine deutsche Litanei in C von "Mohr" verzeichnet. Ob es sich bei diesen Kompositionen um Werke Joseph Mohrs (1792-1848) handelt oder ob eine Verwechslung mit einem Werk des deutschen Caecilianers und Kirchenlied-Komponisten Joseph Hermann Mohr (1834-1892) vorliegt, ist in Ermangelung der Quellen nicht zu entscheiden.
Ad 2.: gegenwärtig unbekannt
Ad 3.: Laut Thomas Hochradner (18) erinnerte sich der inzwischen verstorbene Pfarrer Valentin Pfeifenberger, als Pfarrprovisor in Kleinarl bei einer Durchsicht des Notenbestandes die Sopranstimme des Liedes gesehen zu haben. Auch Luis Grundner (19) erwähnt dieses Osterlied.
Ad 4.: gegenwärtig unbekannt
Ad 5.: gegenwärtig unbekannt
Neben diesen Kompositionen wird Joseph Mohr noch ein weiteres geistliches Lied mit der Überschrift "Das Glück eines guten Gewissens" zugeschrieben (20), von dem sich eine Abschrift vom Ende des 19. Jahrhunderts in Wagrain befinden soll. (21) Eine Kopie dieser Abschrift lag mir für diese Untersuchung vor.
Das Lied für 2 Sopräne mit dem hier fehlerhaften Titel "Das gute Glück eines guten Gewissens" hat sechzehn Strophen. Die Quelle trägt nach der letzten Strophe den Vermerk "Mohr." und einen weiteren "Das Original ligt [!] bei Hochw. Hr. Johann Kostanzer dz. Pfarrer in Fusch. 1894." (22) Von wem diese Abschrift stammt, ist mangels Übersicht über die Schreiber der Pfarren zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht festzustellen.
Sowohl in der Neuen Deutsche Biographie (23) als auch im Österreichischen Biographischen Lexikon (24) werden sowohl der Text als auch die Melodie dieses Liedes Joseph Mohr zugeschrieben. Der Text ist freilich nicht von Joseph Mohr, sondern von dem deutschen Dichter und Moralphilosophen Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769). Er findet sich unter den "Geistliche Oden und Liedern" Christian Fürchtegott Gellerts (25) , die 1757 zum ersten Mal erschienen waren. Gerade "Das Glück eines guten Gewissens" wurde mehrmals vertont, u. a. von Carl Philipp Emanuel Bach (26), und scheint in zahlreichen Kirchenliederbüchern auf. Dass Gellerts Texte in Salzburg schon im 18. Jahrhundert rezipiert wurden, wissen wir aus dem Briefwechsel der Familie Mozart. Während Leopold Mozart 1755 mit seinem Verleger Lotter zweimal über eine Lieferung von Werken Gellerts (27) korrespondiert, meldet W. A. Mozart am bereits am 26. Jänner 1770 aus Mailand (!) seiner Schwester den im Dezember erfolgten Tod Gellerts "Neues weis ich nichts als das H: gelehrt, der poet zu leipzig gestorben ist, und dan nach seinen doth keine poesien mehr gemacht hat." (28)
Das achttaktige Lied im 4/4 Takt steht in Es-Dur. Jeweils die letzte Zeile der Gedichtstrophe wird wiederholt. Die einfache Orgelbegleitung wurde wohl am Klavier komponiert, denn die Akkordwiederholungen eignen sich für die Orgel eher schlecht. Die Führung der Singstimmen in Terzen und Sexten zeichnet sich insbesondere in T. 2 durch eine gewisse Eigenwilligkeit aus.
Dass Joseph Mohr dieses Lied komponiert hat, ist wohl möglich - für eine sichere Zuschreibung ist aber 1) eine Untersuchung der kirchlichen Liederbücher nötig, in denen dieser Text vertont wird, und 2) eine Übersicht über die Kompositionen Joseph Hermann Mohrs (1834-1892) wegen der Gefahr einer Verwechslung wünschenswert. Beides kann für diese Untersuchung nicht geleistet werden. Die Frage nach einer Kompositionstätigkeit des Dichters von "Stille Nacht! Heilige Nacht!" muss daher solange offen bleiben, bis weitere Quellen ans Licht kommen.