Regina Polak. Die subversive Botschaft von Weihnachten - wie ein Fest und ein Lied dem Kommerz widerstehen

Festrede der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak anlässlich des Festaktes "50 Jahre Stille Nacht Gesellschaft" in Oberndorf bei Salzburg. (Foto: SNG/Franz Pritz)

1. Blick-Umbruch

Es war eine Weihnachtskrippe, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte – unerschwinglich für mein Portemonnaie, aber in spiritueller Hinsicht ertragreich für mein Leben. Ich war so vom Blitz der Erkenntnis – oder vielleicht sogar vom Heiligen Geist? – getroffen, dass ich sie zu fotografieren vergessen habe. Ich kann Ihnen also nur erzählen, was mir da widerfuhr.

2010 stand ich in Berlin vor einem Glaskubus, ca. 1,50m breit, hoch und lang, betitelt mit „Weihnachtskrippe“. Ich war irritiert. Denn was ich zuerst sah, war eine wunderbare goldene Stadt, mit prächtiger Stadtmauer, niedlichen kleinen Häusern und vielen Palmen – alles in perfekter Handarbeit. Was ich allerdings vermisste, war die Heilige Familie. Erst als ich meinen Blick von dieser künstlerischen Pracht abwandte, entdeckte ich Maria, Josef und das Jesuskind. Sie lagerten am Rand des Kubus auf einem Boden aus Rindenmulch und waren von demselben dunklen Braun wie dieser. Ich musste schon sehr genau hinsehen, um hier das Krippenszenario zu erkennen.

Dreierlei habe ich damals gelernt:

- Das Heil – also die Rettung und Befreiung der Schöpfung, die Christ:innen im Leben, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth er- und bekennen – beginnt nicht im Zentrum, sondern am Rand; an der Peripherie. Als Papst Franziskus 2013 sein Pontifikat unter das Programm „Hinausgehen an die Ränder“ stellte, war mir dieses Anliegen zutiefst vertraut.

- Wer diesen Prozess der Heilung, Befreiung und Rettung der Welt wahrnehmen will, muss eine schmerzhafte Umkehr vollziehen – oder besser: er muss eine solche Umkehr erleiden. Denn diese beginnt mit einem Umbruch des Blicks, der Umkehrung der Wahrnehmung. In dem jüngst wieder aufgelegten Buch „Mystik für Anfänger“ von Adolf Holl habe diese Blick-Umkehr pointiert in Sprache gefasst gefunden: „Der bewundernde Blick in die Höhe, zu den Geistesriesen, Kapazitäten, Pyramiden, Domspitzen, Wolkenkratzern muss ‚umgebrochen‘ werden“[1] ein Begriff, den Holl bei Ernst Bloch in dessen „Prinzip Hoffnung“ gefunden hat und den letzterer – wen wundert dies jetzt – auf die Geburt Christi bezieht: „Zu einem Kind, das im Stall geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden.“[2] Für Holl ist diese Blickumkehr der erste von vierzehn Schritten des Erlernens eines mystischen Erfahrung. Die „Bewegungsrichtung“ des Glaubens lautet also „Nähe (und nicht: Ferne) – Niedrigkeit (und nicht: Größe) – Heimlichkeit (und nicht: Unheimlichkeit).“ [3] Holl stellt richtig fest: „Das ist die Bewegungsrichtung der Bibel (…): ein Zug nach unten, zum Unscheinbaren, Geringfügigen. Ein kleines Land zwischen den hochkulturellen Machtblöcken Ägyptens und Mesopotamiens, kaum erwähnt in deren Chroniken: Israel. Und dann der ‚wahre Israelit‘, Jesus aus Nazareth, dessen kurzer Lebenslauf in den damaligen Zentren des kulturellen und politischen Lebens ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde.“[4]

Diese Logik ist bis heute subversiv. Sie steht zu den Werten unserer Gesellschaft – der Selbstoptimierung, des Erfolges und dem Streben nach Akkumulation von Macht und Geld – in einem diametralen Gegensatz. Man wird zum weltfremden „Freak“, wenn man die Welt so betrachtet; und man macht so ganz sicher nicht Karriere. Gut, dass ich 2010 schon promoviert war und eine Anstellung mit Perspektive an der Universität hatte. Bis dahin konnte ich also ungebremst nach oben blicken. Seither lebe ich im Zwiespalt.

- Diese Glaubens-Logik der Blick-Umkehr war mir als Theologin selbstverständlich schon vor 2010, noch vor meinem Krippen-Erlebnis, bekannt. Mein Blick auf die Berliner Weihnachtskrippe richtete sich dennoch zuerst auf die goldene Stadt. Auch theologisches Wissen schützt nicht vor der gesellschaftlichen Logik, die in unseren Körpern steckt.

[1] Adolf Holl_ Mystik für Anfänger. Wien 2022, 16.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.

2. Biblische Logik

Die biblische Umkehr-Logik, der zufolge Großes im Kleinen beginnt, finden wir auch in der Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte [5] des Weihnachtsliedes „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Geplant war kein kommerzieller „Bestseller“; vielmehr hat, wie es heißt, das Orgelpositiv nicht funktioniert. Das Lied, das (ähnlich wie die Bibel) heute in 300 Sprachen und Dialekte übersetzt ist, entstand in einem kleinen Ort im Salzburger Land. Und wie zahlreiche Texte der Bibel entstand es in schweren Zeiten. 1816 war in der Folge des Ausbruches eines Vulkanes in Tambora in Indonesien ein „Jahr ohne Sommer“; es folgten eine kleine Eiszeit in Europa, Missernten, beispiellose Teuerung, Hunger, Krankheiten inklusive. Die Menschen litten an den Nachwirkungen der Napoleonischen Kriege. Europa war neu geordnet. Das Fürstentum Salzburg war säkularisiert worden und hatte seine Selbständigkeit verloren. Die Salzach war nun die Staatsgrenze, was den Salztransport bedrohte, der die die Grundlage des Wohlstandes in Laufen/Oberndorf bildete. Die Menschen sahen unsicheren Zeiten entgegen, die Stimmung war apokalyptisch. In dieser Zeit kommt Joseph Mohr nach Oberndorf und erklingt 2018 erstmals „Stille Nacht“.

Als die Verfasser des Weihnachtsevangeliums ihre Geschichte niederschrieben, herrschte ebenfalls keine gute Stimmung. Der Krieg gegen die Römer war verloren, unzählige Soldaten tot oder verschleppt, der Tempel als Kultzentrum zerstört, und das Land unter der Herrschaft eines Kaisers, der sich „Dives Imperator“ nannte, also wie einst der ägyptische Pharao den Anspruch auf die Repräsentation Gottes erhob. Auch die apokalyptische Grundatmosphäre, die wir heute kaum mehr wahrnehmen, gehört zu diesen Texten: [6] Man erwartete wie die Jesusbewegung sehnsüchtig die die Erfüllung der Verheißungen Gottes: dass Gott im Begriff stand, „die Geschichte zu erlösen, das Böse zu besiegen, die Toten aufzuerwecken und eine universale Herrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit herbeizuführen.“ [7] Und als diese erhoffte Apokalypse zum Guten nach mehrfachen Enttäuschungen wieder nicht kam, musste man sich umorientieren und das Leben, Sterben und Auferstehen des Messias neu verstehen lernen. Die Evangelien wurden niedergeschrieben und begannen sich im Imperium Romanum zu verbreiten – vorläufig relativ unbemerkt und von beständiger Verfolgung der Gemeinden bedroht.

Ähnlich unbemerkt verbreitete sich zunächst auch „Stille Nacht“; die Geschichte dieser Wege sind schwer zu rekonstruieren. Aber vom Salzburger Land erreichte es dann das Tiroler Zillertal, im weiteren ganz Europa und kam bis in die USA. Zur Jahrhundertwende war es durch katholische und protestantische Missionare auf allen Kontinenten verbreitet. Und das alles ohne Marketing-Agentur, sondern weil es eindrücklich die Botschaft des Weihnachtsevangeliums in die Herzen der Menschen pflanzte.

[5] Informationen zum Folgenden vgl. Stille Nacht Gesellschaft: Stille Nacht - Home (2.11.2022).
[6] Vgl. dazu Paula Frederiksen: Als Christen Juden waren. Stuttgart 2021.
[7] Ebd., 19.

Die Parallelen sind frappant.

Was für mich zu sehen ist: Schwierige gesellschaftliche und politische Umstände sind ein guter Nährboden für die Entstehung wahrhaft Geist-Vollen, für das Wahrnehmen und Wirken Gottes in der Geschichte. Die Schönheit des Weihnachtsevangeliums wie auch von „Stille Nacht“ sind deshalb kein Ausdruck von Idylle und Harmonie, sondern eine subversive Form geistig-geistlichen Protests und Widerstands. Sich an die Geburt Christi zu erinnern und diese in Gebet und Gesang zu vergegenwärtigen sind als solche eine zutiefst humane Weise, sich den Widrigkeiten, den Dramen und Katastrophen der Geschichte zu widersetzen. Und zwar auf friedliche Art und nur dann, wenn dies nicht bezweckt wird, sondern in einer gewissen Absichtslosigkeit geschieht. Dann ist die Schönheit von „Stille Nacht“ subversiv – sie unterminiert die Macht der Verzweiflung, der Angst, der Hoffnungslosigkeit und des Bösen. Und das kann dieses Lied noch heute.

3. Subversität der Weihnachtsbotschaft

Subversiv sind aber nicht nur das Weihnachtsevangelium und seine Vertonung in ihrer ästhetischen Gestalt, sondern auch die Inhalte von Weihnachten. Freilich ist dies in unserer kommerzialisierten Weihnachtskultur kaum noch wahrnehmbar. Aber mit ihren vielen Lichtern, ihrer Geschäftigkeit und den vielen Geschenken lässt doch auch unsere Kultur erahnen, dass zahlreiche Menschen sich nicht nur nach einer „anderen“, „schöneren“ Wirklichkeit sehnen, sondern auch um die subversive Kraft von Weihnachten irgendwie „wissen“ – mögen sie diese Ahnung auch nur in verzerrter und in der gesellschaftlich dominanten ökonomischen Logik ausdrücken.

Dass Weihnachten freilich einer anderen, subversiven Logik folgt, möchte ich im Folgenden anhand der sechs Strophen von „Stille Nacht“ verdeutlichen. Im Übrigen ist aber auch dies eine „ökonomische“ Logik. Denn die Lehre von Sinn, Ziel, Beziehungsstruktur und Methodik der sogenannten „Heilsgeschichte“ Gottes mit seiner Menschheit heißt „Heilsökonomik“. Diese zielt auf die Verwandlung jedes einzelnen Menschen, der gesamten Menschheit und der ganzen Schöpfung hin zu einem Leben in Gerechtigkeit und Frieden – „zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8, 18–30). Und einige wesentliche Prinzipien dieser alternativen „Haus-Ordnung“ (oikos nomos) lassen sich auch im Weihnachtsevangelium und in „Stille Nacht“ erkennen.

1. Strophe:

Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht nur das traute heilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar. Schlaf in himmlischer Ruh! Schlaf in himmlischer Ruh!

Ich möchte meinen Blick auf das traute heilige Paar und die heilige Familie richten, die hier vor unserem Auge erstehen. Was wir sehen, ist eine jüdische Familie – die Locken Jesu waren also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht blond. Dieses Bild ist in unseren Breitengraden zum Inbegriff der glücklichen, bürgerlichen und selbstverständlich perfekten Kleinfamilie geworden.

Aber blickt man auf die Texte der Bibel, fallen einem vielleicht andere Gründe auf, warum das neugeborene Kind tatsächlich gute Gründe hat, in „himmlischer Ruhe“ zu schlafen.

Zunächst wird Jesus mit zwei Menschen aufwachsen, die ihm eine fundierte jüdische Erziehung angedeihen lassen. Wilhelm Bruners hat in einem wunderbaren Buch [8] gezeigt, wie Jesus glauben lernte. Das traute Paar erweist sich dabei als schriftkundige Familie, die Jesus von Anfang an mit einer spezifischen Auslegungstradition der Thora prägen wird. Maria zitierte schon beim Besuch ihrer Kusine Elisabet mit dem Magnificat (Lk 1,46–55) eine befreiungstheologische Tradition; übrigens auch hier wieder der Blick-Umbruch vom Hohen zum Niedrigen: Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Und Josef stammt aus dem davidischen Adel, kennt also die Thora und legt diese im Geist der Barmherzigkeit aus, als er seine schwangere Verlobte nicht verstößt. Der Glaube an die Befreiung aus Erniedrigung und Ohnmacht sowie an die Barmherzigkeit Gottes stehen also bereits an der Krippe und eröffnen den Lebensweg Jesu. Überdies wird im Stammbaum Jesu (Mt 1) Maria als Angeheiratete angeführt; Jesus wird also über Josef in die Geschichte des Volkes Israel eingereiht. Damit ist klar: Nicht die Zugehörigkeit über Fleisch und Blut ist entscheidend, sondern die Zugehörigkeit über den Geist, oder noch konkreter: über die Bereitschaft, Gottes Willen zu tun (z.B. Mk 3,20; Mk 6; Mt 12,46–50). Dass dies wichtiger ist als die Familienzugehörigkeit und deren Normen und Werte, wird auch die Familie Jesu später von ihm lernen müssen. Aber in einem solchen geistig-religiösen Klima lässt sich gut schlafen – auch wenn die biblischen Geschichten auf subversive Art die moralischen Vorstellungen so mancher Zeitgenoss:innen damals wie heute irritieren.

Zum zweiten lässt ein nicht-gläubiger, nicht-theologischer Blick auf das traute Paar erkennen, dass hier keinesfalls eine perfekte Familie vor uns steht. Eine junge Frau bekommt noch vor der Eheschließung ein Kind, dessen Gott-Vater nur für das gläubige Auge, nicht aber für das irdische Auge sichtbar ist. Das gilt zunächst auch für Josef, der sich deshalb ja auch von ihr trennen will und dazu vor dem Gesetz auch berechtigt ist. Weil er aber seinen Träumen und Gott vertraut, wird er es nicht tun. Doch das Setting bleibt unperfekt. Heute würde man vielleicht von einer „Patchwork“-Familie sprechen.

Denn aufgrund der Vorgeschichte hat diese Familie gemäß der damaligen Rechtsvorstellungen keinen perfekten Start. Aber nach dem Willen Gottes sehen wir hier vielleicht sogar eine Vorbildfamilie anderer, subversiver Art. Damit reiht sich die heilige Familie bestens in viele der Familien ein, die wir im Alten Testament finden und die, mit modernem psychologischen Auge, nicht selten etwas dysfunktional erscheinen (Abraham, Sarah und Hagar; Abraham, Isaak und Esau; Jakob, Lea und Rahel; David und Bathsheba etc.). Gleichwohl sind all dies die Familien, mit denen Gott seine Geschichte des Heils für die ganze Menschheit schreibt.

Welch ein subversiver Trost für all jene, die keine perfekten Familienverhältnisse aufweisen können, vielleicht gerade zu Weihnachten, wo die psychotherapeutischen Praxen übervoll sind mit Menschen, denen in dieser Zeit ihre Probleme mit der Liebe und ihren Lieben besonders schmerzhaft bewusst werden.

[8] Wilhelm Bruners: Wie Jesus glauben lernte. Freiburg im Breisgau 2012 (2006).

2. Strophe

Stille Nacht! Heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, Da uns schlägt die rettende Stund‘. Christ, in deiner Geburt! Christ, in deiner Geburt!

Die Geburt eines Kindes wird zu rettenden Stunde – das gilt an der Krippe, das gilt auch heute in vielen Familien, wenn ein neuer Erdenbürger, eine neue Erdenbürgerin das Licht der Welt erblickt. Worin diese Rettung, zunächst ganz irdisch betrachtet, besteht, kann man bei Hannah Arendt lernen. In ihrer „Vita activa“ hat sie den Gedanken der Natalität entwickelt. Anders als ihr Lehrer Martin Heidegger und viele andere männliche Philosophen denkt sie das Wesen des Menschen nicht von dessen Sterblichkeit und Endlichkeit her, sondern von seinem Beginn, von seinem Geboren werden. Die Menschen sind nicht zum Tode verurteilt, sondern verfügen dank ihrer Natalität über die Fähigkeit, Anfänge zu setzen und Neues in die Welt zu setzen. Weil sie von einer Mutter geboren sind, sind sie nicht in die Welt geworfen (so z.B. Jean Paul Sartre), sondern von Anfang an auf andere Menschen und deren Zuwendung, Fürsorge und Liebe bezogen. Sie sind von Beginn an eingewoben in Netz aus Beziehungen und können darin aus eigener Initiative Neues in die Welt bringen.

Arendt schreibt:

„Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ [9]

Dies zu erinnern, sich dessen bewusst zu werden, dazu ermutigt zu werden: auch dies lässt die Ankunft des Christus-Kindes erkennen.

So ist denn auch bei Arendt zu lesen:

„Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien [und ich darf ergänzen: das Lied „Stille Nacht“]‚die Frohe Botschaft‘ verkünden: ‚Uns ist ein Kind geboren.‘“ [10]

Wenn im Weihnachtsevangelium daher die Geburt Jesu beschrieben wird, ist dies auch eine Aufforderung zu Solidarität, Barmherzigkeit und Nächstenliebe – es ist diese Liebe, die aus Jesu göttlichem Mund lacht.

Die Logik, von der Geburtlichkeit her das Wesen des Menschen zu denken, verpflichtet in Konsequenz dazu, die Gestaltung unserer Welt vor den Augen der Kinder zu verantworten. Und spätestens damit wird deutlich, dass der subversive Charakter der Botschaft, dass Gott sich in einem Kind zu erkennen gibt, nicht einmal noch annähernd ins Bewusstsein gedrungen ist.

Denn eine Welt, in der politische, gesellschaftliche, ökonomische etc. Entscheidungen aus der Perspektive von Kindern getroffen würden und vor diesen zu rechtfertigen wären, sähe anders aus. Aus den Mündern zu vieler Kinder heute lacht zu oft nicht mehr die göttliche Liebe des Anfangs, sondern zeigen sich Angst und Depression angesichts einer bedrohlichen Zukunft. [11] Die Liebe, die aus Jesu göttlichem Mund lacht, dient uns Erwachsenen also nicht nur zum persönlichen Glück, sondern nimmt uns auch unseren Kindern gegenüber in die Pflicht – nicht nur den eigenen. Denn im Kind Jesus sind alle Kinder dieser Welt geheiligt.

[9] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 91997, 317
[10] Ebd., 215.
[11] Vgl. Economist Impact: Depression in Europe, janssen-depression_in_europe_report (2).pdf (02.11.2022).

3. Strophe

Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht, aus des Himmels goldenen Höh’n, uns der Gnaden Fülle lässt seh’n, Jesum, in Menschengestalt, Jesum, in Menschengestalt.

Wieder treffen wir in dieser Strophe auf den bereits eingangs erwähnten Blick-Umbruch: Die Bewegung Gottes aus des Himmels goldenen Höhen herunter auf die Erde zu den Menschen macht Gott erkennbar, berührbar und erfahrbar durch, mit und in einem Menschen. Die Gnade ist hier auf Erden bereits gegenwärtig. Die Theologie nennt dies eine kenotische Bewegung, zu der auch wir eingeladen sind. Sie wird in Jesu Tod am Kreuz ihren Höhe – besser: Tiefpunkt finden.

Warum fällt uns diese mystische Art der Gnadenerfahrung so schwer – die Gnade im Tief-, im Untergang zu finden? Weil uns die goldenen Himmelshöhen einfach besser gefallen als die so schwere, oft schmerz- und leidvolle Erdenwirklichkeit unten? Oder weil wir gelernt haben, dass Macht – und erst recht die Macht Gottes – immer „oben“ und „beeindruckend“ sein müssen? Wirkt sich hier eine bestimmte Form der Erziehung aus?

Ich darf wieder Adolf Holls Schule der Mystik zitieren:

„Vom zartesten Kindesalter an gibt es in unserem Leben die belehrenden Zeigefinger. Sie wiesen auf allerlei Bedeutsames, Großartiges, Gewaltiges. Sie wollen in uns Respekt, Ehrfurcht, Bewunderung erzeugen, in jedem einzelnen Fachgebiet, von der Religion bis zur Mathematik. Nach acht oder zwölf Schuljahren ist dann die Kategorie der Bedeutsamkeit fest verankert: Ein Millionär ist bedeutender als ein Altersrentner. Ein Fußballstar wichtiger als ein Postbote. Eine Schlagersängerin faszinierender als eine Friseuse. Und so weiter. Das ist schlecht für die Mystik, deren Blumen im Verborgenen blühen.“ [12]

Es ist auch schlecht für eine Mystik von Weihnachten, die in der Geburt eines Kindes das Wesen und die Größe des allmächtigen Gottes erkennt, dessen Allmacht in bedingungsloser Liebe und Hingabe besteht und davon abhängig ist, dass Menschen sie annehmen. Und die erfahren lässt, dass mit dieser Offenbarung Gottes die Transformation der gesamten Schöpfung fortgesetzt wird, die mit der Liebe zum Kleinen, Verletzbaren, Unscheinbaren beginnt.

Wichtig an dieser Stelle zu ergänzen ist, dass diese Gnadenerfahrung der Nähe Gottes nicht erst mit Jesus anfängt, sondern das ganze Alte Testament durchzieht: wenn Gott das Elend seines Volkes in der Sklaverei sieht, ihr Leid kennt und zu ihnen herabsteigt (Ex 3, 7-9); wenn er auf seine Propheten hört und sich in seinem Zorn beschwichtigen lässt (Ex 32; Hos 14); wenn er dem Beter im Psalmengebet nahe ist. Aber weil es den Menschen offenbar schwer fällt, die göttliche Nähe anzunehmen und auszuhalten, erneuert er in Jesus Christus seinen Bund und wird leibhaftig in ihm gegenwärtig. Oder wie es der Kolosserbrief sagen wird: Jesus ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15) – und das gilt von Anfang an, auch das Kind in der Krippe ist bereits das Bild des unsichtbaren Gottes.

4. Strophe

Stille Nacht! Heilige Nacht! Wo sich heute alle Macht väterlicher Liebe ergoss und als Bruder huldvoll umschloss. Jesus, die Völker der Welt, Jesus, die Völker der Welt.

In dieser Strophe klingt die universale Dimension von Weihnachten an, die auch Joseph Mohr erkannt hat. In der Geburt Jesu wird an die Geschwisterlichkeit aller Menschen und damit die Einheit des Menschengeschlechtes erinnert, von der bereits die Genesis Zeugnis ablegt: wenn jeder Mensch auf Erden Gottes Präsenz in der Welt repräsentiert – und nicht nur, wie es in der Antike gedacht wurde, der jeweilige Gottkönig; wenn von der Familie Noahs das gesamte Menschengeschlecht abstammt, also alle mit allen verwandt sind. Mit der Erinnerung an die Geschwisterlichkeit und Einheit des Menschengeschlechts wird es freilich unvermeidlich politisch – stellt sich doch die Frage, wie Geschwister ihr Zusammenleben gestalten; Geschwister, die man sich anders als Freund:innen nicht aussuchen kann und mit denen man daher auch bei Zerwürfnissen ein Leben lang verbunden ist,

Dass wir angesichts von kulturellen Tribalismen, Nationalismen, Rassismen und Krieg(en) weit von einer universalen Geschwisterlichkeit der Menschheitsfamilie entfernt sind, macht die Subversivität der vierten Strophe bewusst. In dieser erklingt gleichsam kontrafaktisch die Sehnsucht nach dem Frieden von Völkern, die sich als Geschwister verstehen. Und diese Sehnsucht kann, nimmt man sie ernst, damals wie heute alles menschliche Stammes- und Rudeldenken unterminieren.

Dass es dabei aber nicht nur um geschwisterliche Umarmung in Liebe geht, sondern zwangsläufig auch unrechte und ungerechte Machtverhältnisse in den Blick geraten müssen, die solche Geschwisterlichkeit stören oder gar zerstören, klingt im Weihnachtsevangelium an. Nicht der im fernen Rom herrschende göttliche Imperator Augustus, der zwar alle Menschen zum Registrieren zwingen kann, ist der Retter und Herrscher der Welt. Sondern ein Kind im besetzten Israel, an der Peripherie des Reiches, macht die Präsenz des wahren Gottes für alle sichtbar. Diese verschlüsselte machtkritische Botschaft des Weihnachtsevangeliums war für damalige Zeitgenoss:innen klar verständlich – insbesondere für Juden, die dabei an die Geburt des Moses erinnert wurden, der es mit dem Pharao aufgenommen und mit Gottes Hilfe die Hebräer aus der ägyptischen Knechtschaft befreit hat. Wir könnten diese Botschaft neu hören lernen. Wenn das Kind in der Krippe und Augustus zugleich benannt werden, ist dies nicht nur eine Sachinformation. Es ist eine theopolitische Aussage. Gott und kein irdischer Imperator ist der Herrscher der Welt. Und dieser Herrscher wird erkennbar in einem Kind. Wieder eine Blick-Umkehr in Bezug auf Macht.

[12] Holl, Mystik für Anfänger, 16.

5. Strophe

Stille Nacht! Heilige Nacht! Lange schon uns bedacht, als der Herr vom Grimme befreit, in der Väter urgrauer Zeit aller Welt Schonung verhieß, aller Welt Schonung verhieß.

Mit dieser Strophe bin ich, ehrlich gesagt, etwas unglücklich, da sie antijüdische Konnotationen wecken kann. Denn das Bild vom „grimmigen Herrn“ wurde in der christlichen Tradition und wird bis heute mit dem „zornigen Gott“ des Alten Testaments assoziiert, der durch den Gott der Liebe des Neuen Testaments angeblich abgelöst und ersetzt wurde. [13] Solche antijüdischen Substitutionstheorien haben das katholische Lehramt und viele Theologen nach der Shoah gottseidank abgeschafft. Aber sie gären nach wie vor in der Kirche. Joseph Mohr kann man zugutehalten, dass eine solche antijüdische Sicht damals schlichtweg zur Normalität der Gläubigen gehörte und er nicht wusste, wohin dies führen würde. Heute muss man zu dieser Strophe einen anderen Zugang finden.

Zum einen ermutigt sie dazu, sich bewusst zu machen, dass die „schonende“ Barmherzigkeit Gottes wie ein roter Faden die gesamte Heilige Schrift durchzieht. Papst Franziskus hat diese daher nicht ohne Grund ins Zentrum seines Pontifikats gestellt: Er weiß, wie die Bibel, dass Menschen sich ihren Sünden nur in einer Atmosphäre umfassender Barmherzigkeit stellen können. Denn die Barmherzigkeit hebt ja die Pflicht zur Gerechtigkeit und die Notwendigkeit, Verantwortung für die je eigene Schuld zu übernehmen, nicht auf, sondern eröffnet Freiheit und Zukunft für den Sünder, die Sünderin. Deshalb ist die Mohr’sche Freude über die Schonung durch Gott durchaus nachvollziehbar. Sie bezieht sich allerdings eben nicht auf einen angeblich grimmigen Gott, sondern bringt zur Sprache, dass sich die (meisten) Menschen dank ihres Gewissens bewusst sind, dass sie der Vergebung bedürfen.

Zum anderen eröffnet dieser Strophe eine spirituell-psychologische Perspektive. Denn offen ist immer noch die Frage, warum sich viele Menschen schwer tun, sich der göttlichen Barmherzigkeit anzuvertrauen bzw. worin Angst und Misstrauen gegenüber einem grimmigen Gott ihre tieferen Wurzeln haben. Denn Angst vor einem strengen und strafenden, Gott findet sich durchaus auch heute noch – selbst dann, wenn die jahrhundertelange kirchliche Drohbotschaft von einem strafenden Gott, die Mohr und seinen Zeitgenoss:innen sicherlich vertraut war, gar nicht mehr gelehrt wird. Könnte es sein, dass für so manche:n die Erfahrung einer umfassenden, bedingungslosen Liebe beängstigender ist als die Angst vor einem grimmigen Gott; schlichtweg, weil das Grimmige im Leben vertrauter ist als das intensive Glück der unverbrüchlichen, treuen und ewigen Liebe? [14]

Umso wichtiger ist diese Strophe, denn sie kann – nicht chronologisch als Wandel der Gottesbilder verstanden, sondern zur spirituellen Selbstreflexion anregend – tiefen, im wahrsten Sinn des Wortes weihnachtlichen Trost spenden. Dieser unterläuft die menschliche Neigung zur Angst vor dem Grimm der Welt und schützt vor ihr.

6. Strophe

Stille Nacht! Heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht durch der Engel Halleluja, tönt es laut bei ferne und nah: Christus, der Retter, ist da! Christus, der Retter ist da!

Diese Strophe scheint klar verständlich, sie gehört zum Herzen des christlichen Credo. Worin könnte ihre Subversivität bestehen?

Nun: Wenn man sie ernst nimmt, dann erinnert sie Christ:innen daran, dass die Welt schon erlöst IST und wir uns daher nicht mehr vor dem Bösen und dem Tod fürchten müssen. Dies klingt freilich angesichts der aktuellen Weltlage und der apokalyptischen Stimmung, die durch den Krieg in der Ukraine und die Kumulativität der Krisen in Europa herrscht, mindestens naiv wenn nicht unglaubwürdig oder gar zynisch.

Subversiv wird dieser Glaube an die in der Geburt Christi erfolgte Rettung erst dann, wenn wir diese Strophe zum Anlass nehmen, über unser Verständnis von Erlösung nachzudenken. Zumeist wird dies ja relativ individualistisch bzw. spiritualisiert und auf innere Gefühle bezogen verstanden oder auf die Auferstehung nach dem Tod reduziert.

Aber wenn wir auch hier begreifen lernen, was der Jude Jesus und die jüdische Tradition unter Erlösung verstanden haben – nämlich die Befreiung aus allen inneren wie äußeren Unfreiheiten hin zu einem Zusammenleben in Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit und Frieden mit uns selbst, den Mitmenschen, der ganzen Schöpfung und Gott – dann werden diese Strophe und die Botschaft des Weihnachtsevangeliums zu einem Gegengift gegen Resignation, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie immunisieren gegen eine ausschließlich negative Sicht auf die Welt, heilen uns von Passivität - und spornen uns an, selbst zu Mit-Retter:innen der Welt zu werden und sich solcherart an der Heilsökonomie Gottes zu beteiligen.

In diesem Sinn bedanke ich mich für die Möglichkeit, über das Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige“ Nacht meditieren zu dürfen und es heuer zu Weihnachten mit meiner Familie mit erneuerten Ohren singend zu können.

[13] Art. „Zorn Gottes“, in: Norbert Reck (Hg.): Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen. Im Auftrag des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Ostfildern 2017, 200–202.
[14] Regina Polak: Das "Pharao versus YHWH Drama". Oder: Warum es so schwierig ist, an die bedingungslose Liebe Gottes zu glauben, in: Elmar Mittersiller (Hg.): Gottes andere Wange: Zumutung und Erlösung, Würzburg 2021, 127–140.

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