Gerlinde Haid: Stille Nacht als Brauchlied
Es gibt viele Lieder, die wir im Laufe eines Lebens hören oder singen, und zu einigen davon entwickeln wir eine ganz besondere Beziehung, weil sie einen besonderen Platz in unserem Leben einnehmen. Es sind oft so genannte "Brauchlieder", also Lieder, die mit bestimmten Orten und Zeiten verknüpft sind und zu einem Ritual gehören.
Gibt es so etwas heute überhaupt noch? Ja durchaus und es hängt nicht damit zusammen, wie alt oder wie jung die Lieder sind. Ich darf zunächst ein jüngeres Beispiel nennen: "Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß" tanzen viele Brautleute bei ihrer Hochzeit als ersten Tanz. Mit diesem Lied nach dem Text von Kurt Hertha und der Musik von Rolf Arland schaffte der deutsche Schlagerstar Roy Black im Frühjahr 1966 den Durchbruch und verkaufte rund 2,5 Millionen Singles mit dieser Nummer. Aber nicht wegen dieses Verkaufserfolges, sondern wegen seiner Verankerung im Leben so vieler Menschen ist es ein wichtiges Lied geworden. Oder ein älteres Beispiel: Der auf das Mittelalter zurückgehende Studentengesang "Gaudeamus igitur" gilt als das berühmteste traditionelle Studentenlied der Welt. Es ertönt nach wie vor auf den Universitäten nach festlichen Promotionen oder Sponsionen.
Über die genannten Lieder hinaus gehören alle Hymnen, von der Bundeshymne über die Landeshymnen bis zu den Fußballhymnen, zu den Brauchliedern. Und eben auch "Stille Nacht".
Solche Brauchlieder sind für eine Gemeinschaft unglaublich wichtig. Inzwischen gibt es eine ausgedehnte Ritualforschung von den Kulturwissenschaften, von der Hirnforschung, von der Medizin, die uns auf Folgendes aufmerksam macht: Der Mensch lebt durch seine kulturelle Evolution in einer Menge sozialer Realitäten, die man aber nicht anschauen oder angreifen kann. Um nur einige Schlagworte zu nennen: Empathie, Fairness, Treue, Trauer, Liebe, Demut, Gelübde, Versprechen, Wertsysteme, soziale Regel- und Glaubenssysteme, moralische Setzungen, ästhetische Übereinkünfte, sozialer Staus, Macht, Verantwortung, Schuld, Erfahrung von Endlichkeit, Anfang und Ende, Vergänglichkeit, Unumkehrbarkeit, Reifung und Verfall. Um diesen unseren natürlichen Sinnen unzugänglichen sozialen Wirklichkeiten den Status von verbindlichen Realitäten zuschreiben zu können, bedarf es der Übersetzung in sinnlich wahrnehmbare Objekte - also z.B. in Lieder (vgl. Singer 16-17).
Wie wird ein Lied zum Brauchlied? Einerseits müssen sich sein Text und seine Melodie dafür eignen. Indem etwa durch den Text besondere Bilder angesprochen werden, durch die die Singenden oder Hörenden in ihrer Erinnerung die Verbindung mit einer ganz speziellen Situation herstellen. (Dass es vielen Menschen ganz und gar nicht egal ist, welche Bilder unsere Brauchlieder in den Raum stellen, zeigt nicht zuletzt die mit 29. 11. 2011 abgeschlossene "Töchter"-Diskussion zur Österreichischen Bundeshymne!)
Andererseits muss so ein Brauchlied irgendwann einmal tatsächlich mit dieser speziellen Situation verknüpft worden sein und dort eine Funktion bekommen haben, und zwar eine Funktion, die meistens einen Übergang begleitet. Also etwa den Übergang vom Brautpaar zum Ehepaar, den Übergang vom Studenten zum Magister, im Fall von "Stille Nacht" den Übergang von der Adventzeit in den nun tatsächlich eingetretenen Heiligen Abend. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat schon 1909 von "rites de passage" gesprochen, was seither gewöhnlich mit "Übergangsriten" übersetzt wird. Auf "Stille Nacht" trifft diese Funktion in unserem Kulturraum sicher zu. Es gibt viele schöne Weihnachtslieder, und auch immer wieder neue, aber mit dem Ertönen bzw. Anstimmen von "Stille Nacht" bei der Weihnachtsfeier in der Familie, oder auch in der Kirche oder beim Turmblasen, ist erst Jahr für Jahr wieder der Schritt gemacht ins Zentrum des wirklichen Weihnachtsfestes. Was sonst nur so eine implizite Ahnung wäre, wird durch das Lied, und zwar genau durch dieses Lied, eine gemeinsame sinnlich wahrnehmbare Realität (vgl. Singer 2011, 18).
Wenn wir uns der bekannten Geschichte von "Stille Nacht" zuwenden (vgl. Hochradner-Walterskirchen 1994; Stille Nacht 2008), so wissen wir inzwischen gut Bescheid über die weltweite Verbreitung, und die vielen Übersetzungen, wir wissen aber eigentlich nicht genau, wie, wo und wann es von einem hübschen Weihnachtslied, das zur religiösen Erbauung gesungen wird, wirklich zum Brauchlied mit dem Sonderstatus des Übergangsritus geworden ist, als das es heute empfunden wird.
Ein Blick auf die Geschichte seiner Aufführung und Verbreitung zeigt uns, dass es von seiner Entstehung an changierte zwischen Kirchenlied und weltlichem weihnachtlichem Erbauungslied. Entstanden ist es als Kirchenlied. Sobald es die Zillertaler Nationalsänger übernommen haben, war es das wohl nicht mehr. Denn ihre Aufführungspraxis war ja keine Kirchenmusikpraxis mit Orgel und Kirchenchor, und ihre Aufführungsorte waren andere. Die Familie Strasser sang das Lied 1831 auf dem Weihnachtsmarkt in Leipzig, also bei einer durchaus weltlichen Veranstaltung. Darauf folgte die erste Publikation in Dresden 1833 als "Tyrolerlied". In den USA wurde das Lied wahrscheinlich von der Familie Rainer das erste Mal am 24. Dezember 1839 vor dem Alexander Hamilton Memorial am Friedhof der Trinity Church am Ende der Wall Street in New York gesungen (Bronner 1994, 241). Da sind wir also der kirchlichen Weihnachtsfeier wieder näher.
Viele Zeugnisse aus der Volksmusikforschung, die großteils noch nicht ausgewertet sind, lassen ein Bild von der Verwendung dieses Liedes "im Volk" entstehen, die sich ja im Lauf der Zeit immer wieder gewandelt hat. Wir finden "Stille Nacht" bereits im 19. Jahrhundert niedergeschrieben in handschriftlichen Liederbüchern. Da haben es also "ganz gewöhnliche" Leute in ihre persönlichen Liedersammlungen übernommen. Ich kenne solche Zeugnisse aus Hallstatt, wo das Lied offenbar sehr bald in die dort bis heute sehr lebendige Krippenkultur eingebunden worden ist. Es wurde Teil der Krippenlieder, die man zu Hause sang, auch gemeinsam mit den Nachbarn, und es gehörte zum Repertoire des "Krambamperlbrennens" am Stefanitag, wo die Krippenlieder in den Wirtshäusern gesungen werden. Es spricht Vieles dafür, dass es auch als sogenanntes "Ansingelied" verwendet worden ist, von Sängern oder Musikanten, die in der Weihnachtszeit von Haus zu Haus zogen. Sie sangen vor den Türen ihre Lieder, eben auch "Stille Nacht", erhielten einen Obolus für einen guten Zweck oder für die eigene Tasche und zogen wieder weiter. Auch dürfte das Lied damals schon in Krippenspielen verwendet worden sein.
Interessant ist die Frage, wann "Stille Nacht" seinen wichtigen Platz in der Familienweihnachtsfeier erhalten hat. Das hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt, zunächst im Bürgertum. In den "besseren Kreisen" gab es damals eine starke Tendenz zur Verweltlichung des Weihnachtsfestes. Die Weihnachtsmärkte, der Tannenbaum und die Geschenke wurden wichtiger als die kirchlichen Handlungen. Das Lied "Stille Nacht" ist eine Versöhnung zwischen dem auf diese Weise verweltlichten bürgerlichen Festgedanken mit der christlichen Tradition.
Die bürgerliche Weihnachtsfeier hat sich erst im Laufe der Zeit und nicht überall gleichzeitig durchgesetzt. Das häusliche Weihnachtsfest meiner bäuerlichen Großeltern im Salzkammergut etwa hat noch ohne "Stille Nacht", und übrigens auch ohne Tannenbaum, stattgefunden. Als sie dann aber ihre Tochter (meine Mutter), Jahrgang 1907, zum Zitherunterricht schickten, war das schon von der Vision beflügelt, dass diese unterm Weihnachtsbaum dann "Stille Nacht" spielen können würde. Das heißt, dass sich damals, also in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, schon das bürgerliche Weihnachtsfest mit Tannenbaum, Geschenken und "Stille Nacht" auch am Land in vielen Schichten durchgesetzt hatte. Tatsächlich ist "Stille Nacht" in der Zwischenkriegszeit auch in allen Schulliederbüchern zu finden. In der Nazizeit war es dann, wie wir wissen, verpönt und erscheint auch nicht mehr in den Liederbüchern. Umso wichtiger war es aber im Krieg, bei den Soldaten, die Weihnachten im Feld, an der Front oder in Kriegsgefangenschaft verbringen mussten. Aus den Berichten, die es darüber gibt, kann man eindeutig herauslesen, dass "Stille Nacht" das Lied war, das sie mit der Heimat, mit der Familie verband, dass es gemeinsam, vielfach unter Tränen, gesungen wurde und damit jene sinnliche Realität erzeugen konnten, die wie Nichts Anderes die Situation der Soldaten fassbar machte. Bis heute steht "Stille Nacht" im Österreichischen Soldatenliederbuch als letztes Lied, quasi als Höhepunkt der Feldmesse, offensichtlich als unabdingbare Ausdrucksmöglichkeit für Truppenteile, die Weihnachten fern der Heimat verbringen müssen. Nach dem Krieg kommt "Stille Nacht" wieder in alle Schulliederbücher, Studentenliederbücher, sogar in Evergreen-Sammlungen, in viele kirchliche Liederbücher und es wird zum Höhe- und Schlusspunkt des Turmblasens.
Zum Thema "Brauchlied" und "Stille Nacht" haben wir bei einer Feldforschung im Flachgau eine sehr überraschende Entdeckung gemacht, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Als wir an einem Abend mit einem singfreudigen Pfarrherrn und seiner Schwester zusammensaßen und die Lieder aus ihrem reichlich sprudelnden Repertoire aufnahmen, kam plötzlich ein Lied, das wie "Stille Nacht" beginnt, dann aber anders weitergeht. Dieses Lied haben sie, als sie noch Kinder waren, zu Neujahr bei Nachbarn und Verwandten gesungen, wobei sie auch einen Spruch aufsagten. Sie hatten das Lied von ihrer Thalgauer Großmutter gelernt. Da es schlichter und volkstümlicher ist als das in aller Welt bekannte Weihnachtslied mit gleichem Anfang, ist darüber gerätselt worden, ob es sich dabei nicht um dessen "Urfassung" handeln könnte. Das dürfte aber eher nicht der Fall sein. Wahrscheinlich hat man das prägnante Motiv einfach verwendet, weil es populär war, und hat daraus dieses hübsche bäuerliche Ansingelied gestaltet (vgl. Haid, Gerlinde und Hans, 1999, CD IV/cut 1).
- Stille Nacht, heilige Nacht! Wir bringen dem Kindlein ein Opfer dar. I bring eam a Strizerl, du bringst eam a Oar, i bring eam an Budan, a paar Reißtl Haar, du bringst eam a Täuberl, a zwoa.
- Stille Nacht, heilige Nacht! Wir wünschen Georgius, Leonhardus ins Haus, dass alles Unglück muss weichen hinaus. Wir Hirten, wir gehen nach Haus.
Es sind eine ganze Reihe typischer Züge, melodische wie textliche, die dieses Lied von dem uns geläufigen "Stille Nacht!" unterscheiden. Es zeichnet sich aus durch eine weitaus schlichtere Melodieführung, durch den Dialekt, durch die Anrufung der "Bauernheiligen", durch die typisch bäuerlichen Gegenstände, die geopfert werden und durch das Aussprechen des Glückwunsches.
Ich fasse zusammen: Dass Stille Nacht heute ein Brauchlied ist, das in weiten Teilen der Bevölkerung wie kein anderes Weihnachtslied für jedermann dem Stattfinden des Heiligen Abends Ausdruck verleiht, hat es seiner Verschwisterung mit der bürgerlichen Familienweihnacht zu verdanken. Dass dabei im Allgemeinen nur drei Strophen (wenn überhaupt) gesungen werden ist heute selbstverständlich. Während die sechsstrophige Fassung eine exzellente Exegese der christlichen Glaubenswahrheit von der Christgeburt ist, und damit sehr nahe an der Kirche ist, stellt die dreistrophige Version eigentlich andere Werte in den Vordergrund: die behütete Familie, das Familienglück, die Liebe, den Bezug zur heiligen Zeit, vage Anklänge an das Evangelium, die allumfassende Erlösung durch Christi Geburt. Christlich bleibt es allemal. Damit ist eben die Versöhnung zwischen weltlichem Familienfest und christlich-religiösem Gedankengut gegeben.
Ich verstehe selbstverständlich die Bemühungen um die Urfassung des Liedes, oder um die Wiederaufnahme der ursprünglichen 6 Strophen in das "Gotteslob", wie dies Bischof Kothgasser anstrebt. Als Volksmusikforscherin weiß ich aber auch, dass Varianten im lebendigen Volksgesang legitim sind. Dass sie es den Liedern erlauben, sich den verschiedensten Situationen anzupassen, um genau das auszudrücken, was im Rahmen eines Rituals Gestalt werden soll.
Gerlinde Haid war bis Oktober 2011 Universitätsprofessorin am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.