Renate Ebeling-Winkler: Das "Stille-Nacht"-Lied in nord- und mitteldeutschen evangelischen Gesangbüchern
Die ersten Druckfassungen von "Stille Nacht! Heilige Nacht!" erschienen als Liedblatt-Drucke 1833 im Verlag August Robert Friese in Leipzig und Dresden. In ein Liederbuch wurde "Stille Nacht" nach den wichtigen Erkenntnissen des Heidelberger Professors für Kirchenmusik Wolfgang Herbst erstmals 1836 aufgenommen. Es handelt sich dabei um eine "Sammlung zwei- und dreistimmiger Gesänge für Volksschulen", herausgegeben von C.A. Abmeyer, Kantor und Lehrer an der Knabenschule zu Grimma, einer bedeutenden Schul- und Verlagsstadt südöstlich von Leipzig.1 Veröffentlichungen dieser Art waren nur mit Genehmigung der Schulaufsichtsbehörden möglich, die im Königreich Sachsen nach ihrer kurz zuvor erfolgten Dezentralisierung vom zuständigen (evangelisch-lutherischen) Ortspfarrer geleitet wurden. Handelt es sich hier noch um ein zwar vom lutherischen Klerus gebilligtes, aber nicht für den Gottesdienst gedachtes (Schul-)Gesangbuch, so wird das "Stille-Nacht-Lied" bereits zwei Jahre später in Leipzig in den "Choral=Melodien zu dem katholischen Gesang- und Gebetbuch für den öffentlichen und häuslichen Gottesdienst" aufgeführt, ist hier also offensichtlich für den Gebrauch im Gottesdienst vorgesehen.2 Daraus ergibt sich die Fragestellung, ob "Stille Nacht" nicht auch in evangelische (Kirchen-)Gesangbücher
Mitteldeutschlands Aufnahme und damit über den Kreis der Lehrer- und Schülerschaft hinaus Verbreitung gefunden hat.
Es gilt also, evangelische Gesangbuch-Sammlungen mit größeren Beständen aufzuspüren. Die Ortskirchenarchive verfügen in der Regel nicht über nennenswerte Sammlungsbestände. Eine Ausnahme bildet hier die Marktkirchenbibliothek Goslar, deren reicher Bestand noch zu untersuchen ist. Erst durch die Einrichtung von Landeskirchenarchiven - den katholischen Diözesanarchiven vergleichbar - besteht die Möglichkeit, Einzelbestände zu konzentrieren und unter fachkundiger Leitung zu betreuen. Die Bibliotheken der für die nachuniversitäre Ausbildung der evangelischen Pastorenanwärter zuständigen Predigerseminare, denen heute zum Teil auch die Ausbildung und Schulung von nicht theologisch-wissenschaftlichem Gemeindepersonal angegliedert worden ist, verfügen über ursprünglich zu Ausbildungszwecken angelegte Gesangbuch-Sammlungen unter Einschluss auch gebiets- oder konfessionsfremder Exemplare.
Aufschlussreich ist auch die Herkunft der Sammlungsbestände. Häufig haben Gemeindepfarrer bereits zu Lebzeiten oder in ihrem Testament die von ihnen selbst gesammelten oder jeweils nach Erscheinen der aktuellen Auflage ausgesonderten Exemplare den Landeskirchenarchiven oder ihrer alten Ausbildungsstätte, dem Predigerseminar, vermacht. Ebenso hinterließen einfache Gemeindemitglieder ihre oftmals in Prachtausgabe als Konfirmations- oder Hochzeitsgeschenk empfangenen Gesangbücher den Sammlungen. Daneben gab es in seltenen Fällen bibliophile Geistliche oder Bibliotheksleiter, die ihre Sammlungen durch Ankäufe von Rara erweiterten.
Für eine erste Grobsichtung im September 2005 wurden folgende Institutionen ausgewählt:
- Das Landeskirchenarchiv in Eisenach mit etwa 200 Gesangbüchern vorrangig aus den thüringischen Fürstentümern. Die erst kürzlich aus dem auf den Pietisten Zinzendorf zurückgehenden Predigerseminar Neudietendorf bei Erfurt hinzugekommenen Bestände werden derzeit erfasst.
- Die Bibliothek des Predigerseminars der Braunschweigischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche mit den Beständen des früheren Predigerseminars Wolfenbüttel. Bei einem Bestand von ungefähr 300 Gesangbüchern war die Durchsicht in den eingeplanten Arbeitstagen nur stichprobenartig möglich, eine systematische Durchsicht steht noch aus.
- Die Bibliothek des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses in Preetz (20 Kilometer südöstlich von Kiel gelegen), in dem neben einigen anderen kirchlichen Aus- und Fortbildungseinrichtungen das Predigerseminar der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche beheimatet ist. Bei einem Bestand von über 200 Gesangbüchern konnte die Verfasserin nur stichprobenartig unter Beschränkung auf die wichtigsten für den Untersuchungszeitraum in Frage kommenden Bücher vorgehen, auch hier ist eine systematische Erfassung noch zu leisten. Von besonderen Interesse sind die vielen Gesangbücher aus der Schweiz, aus dem Elsass, aus den rheinischen und den östlichen preußischen Kirchenprovinzen, die überwiegend aus der Sammlung des Kappelner Propstes Martin Bertheau stammen.
- Das Archiv des 1833 von dem protestantischen Theologen und Sozialreformer Johann Hinrich Wichern gegründeten Rauhen Hauses in Hamburg-Horn. Unter diesem traditionsreichen Namen beherbergt das weitläufige Gelände noch heute mehrere sozialpädagogische Einrichtungen und Ausbildungsstätten sowie eine evangelische Fachhochschule.3
Die erste Durchsicht von insgesamt 200 Gesangbüchern aus allen drei angeführten Kirchenarchivbibliotheken war von folgenden Gesichtspunkten getragen:
- Enthält das Gesangbuch "Stille-Nacht! Heilige Nacht!"?
- In welcher Version?
- Sind Mohr und Gruber genannt?
- In welchem Teil des Gesangbuchs ist das Lied zu finden?
- Ist es für den liturgischen Gebrauch vorgesehen?
- Für welche Zielgruppe war das Gesangbuch konzipiert?
- Welche Advents- und Weihnachtslieder sind im Gesangbuch aufgeführt?
- Gibt es im Gesangbuch andere Lieder, die den Liedanfang "still" enthalten oder eine dem Stille-Nacht-Lied ähnliche atmosphärische Ausstrahlung haben?
Der ursprünglich auf die Zeit von 1818 bis 1900 angelegte Untersuchungszeitraum musste im Laufe der Erstsichtung bis in die 1920er Jahre ausgedehnt werden, damit Entwicklungen und Tendenzen besser herausgearbeitet werden konnten.
Der Augsburger Religionsfriede von 1555, dessen 450. Wiederkehr heuer im großen Rahmen gefeiert wurde, brachte zwar dem einzelnen Christenmenschen keine persönliche Glaubensfreiheit, überließ aber nach dem Prinzip des "Cuius regio, eius religio" dem jeweiligen Landesherrn die Wahl des Bekenntnisses für sich und seine Landeskinder. Dadurch entstanden in den evangelischen Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eigenständige Landeskirchen, an deren Spitze der jeweilige (weltliche) Landesfürst stand, der sich in kirchlichen Angelegenheiten durch einen theologisch ausgebildeten Superintendenten als Stellvertreter und durch Konsistorialorgane vertreten ließ.
Auch wenn im Laufe der Jahrhunderte viele deutsche Kleinstaaten verschwanden, bestand das heutige Bundesland Thüringen bis nach dem Ersten Weltkrieg aus einer Vielzahl von Fürstentümern, eine Folge der Realerbteilung in der hier maßgeblichen ernestinischen Linie des sächsischen Herrscherhauses. Zu den eifersüchtig verteidigten landesherrlichen Rechten gehörte neben der standesgemäßen Hofhaltung die eigenständige Landeskirche und folglich die Herausgabe eines eigenen landeskirchlichen Gesangbuchs, welches landesfürstlich privilegiert, das heißt zensiert, im Gottesdienst obligatorisch vorgeschrieben und urheberrechtlich geschützt war.
Insofern bot das von der Föderation evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland getragene Landeskirchenarchiv Kreuzkirchen Eisenach einen guten Überblick über die in den thüringischen Duodez-Fürstentümern Thüringens verlegten Gesangbücher.
Frontispiz. Evangelisch-lutherisches Gesangbuch für die Fürstentümer Reuß, 1911. Enge räumliche Nachbarschaft der thüringischen Fürstentümer und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den insgesamt lutherisch ausgerichteten Herrscherhäusern legen die Vermutung nahe, dass ihre Gesangbücher einen einheitlichen Aufbau und Inhalt haben. Es scheint jedoch der Ehrgeiz eines jeden landeskirchlichen Konsistoriums gewesen zu sein, ein einzigartiges Gesangbuch herauszugeben.4 In allen untersuchten Gesangbüchern orientiert sich die Reihenfolge der Lieder für den Gottesdienst zwar am Kirchenjahr, beginnend mit dem Advent. Doch schon diese Bezeichnung ist nicht einheitlich, häufig findet man für diesen Abschnitt die Überschrift "Von der Zukunft Jesu".5 Auf das Kirchenjahr folgen in der Regel die Anlass-Lieder für Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Begräbnis " sofern sie nicht in einzelnen Gesangbüchern an die erste Stelle gerückt worden sind.
Das Stille-Nacht-Lied ist lange Zeit nicht im liturgischen Teil der Gesangbücher zu finden, sein erstes Auftreten ist in den 1880er Jahren in den zunehmend angefügten Anhängen mit "geistlichen (Volks-)Liedern"6 zu beobachten. Diese Verbannung in den "nicht für den Hauptgottesdienst geeigneten" Teil des Gesangbuchs setzt sich bis ins 20. Jh. fort.7 Auffällig ist hingegen seine frühe Aufnahme in spezifische Gesangbücher für den Jugendgottesdienst, die innere und die überseeische Mission, die auslandsdeutschen Gemeinden, das Militär und die mit der sozialen und seelsorgerischen Betreuung der landgehenden Seeleute betraute Seemannsmission.8
Johann Hinrich Wichern hat in das 1846 von ihm in seinem Verlag "Agentur des Rauhen Hauses" edierte "Allgemeine Evangelische Gesang- und Gebetbuch zum Kirchen- und Hausgebrauch" das Stille-Nacht-Lied nicht übernommen, obwohl er es zwei Jahre zuvor sehr wohl einer Aufnahme in das " im selben Verlag erschienene " von ihm persönlich für die Arbeit mit Jugendlichen zusammengestellte und bearbeitete Gesangbuch "Unsere Lieder"9 wert gefunden hatte. Dass Wichern dabei auf eine Stille-Nacht-Fassung aus der von Carl Gottlob Abela für die Franckeschen Stiftungen in Halle " eine dem protestantischen Pietismus nahestehende Eliteschule " herausgegebene "Sammlung zwei-, drei und vierstimmiger Lieder zum Gebrauche beim Gesangunterrichte in Schulen zunächst für die Schulen in Franckens Stiftungen" zurückgegriffen hat, ist glaubhaft. Wicherns Kontakte zur Franckeschen Stiftung sind bekannt, wie sein "Rauhes Haus" nahmen "Franckens Stiftungen" sozialpädagogische Bildungsaufgaben wahr.10 Dies relativiert die Bedeutung der vermuteten "Leipzig-Altonaer" Quelle ein wenig. Bekanntlich hatte Gottlieb Wilhelm Fink seinen "Musikalischen Hausschatz der Deutschen" mit der "tyrolischen Weise" "Stille Nacht! Heilige Nacht!" 1843 bei Gustav Meyer in Leipzig verlegt, der gleichzeitig eine Filiale in der dänischen Elbhafenstadt Altona betrieb. Wegen des regen Waren- und Ideenaustausches mit dem unmittelbar benachbarten Hamburg und der Einbindung Wicherns in die Hamburger Verlegerszene dürfte diesem Finks "Hausschatz" bei der Zusammenstellung seiner Sammlung "Unsere Lieder" vorgelegen haben.11
Doch selbst in den auf Wichern zurückgehenden oder seinem Gedankengut nahestehenden Einrichtungen wird der Wert des Stille-Nacht-Liedes nicht zu allen Zeiten gleich hoch eingeschätzt. Das evangelische Gesangbuch von 1925 für die preußischen Gebiete Minden und Ravensberg enthält das Lied nicht, obwohl ein besonderer Anhang für die dort von der Inneren Mission betriebene international bekannte Behinderten-Anstalt Bethel angefügt und das Buch in der Anstalt verlegt worden ist.12 Auch in dem 1930 vom Wichern-Verlag des mit Wichern eng verbundenen Ev. Johannesstifts zu Berlin-Spandau herausgegebenen Jugend-Gesangbuch sucht man das Lied vergeblich. Die forschen Geleitworte der Bearbeiter aus der Ev. Schule für Volksmusik, welche die Jugend "vor Liedern falscher "Kindlichkeit? und vor weicher Pseudo-Lyrik bewahren" möchten, mögen dem Stille-Nacht-Lied im Wege gestanden haben.13
Die Gesangbücher führen fast ausnahmslos den (Text-)Verfasser Mohr an, häufig sogar mit seinen korrekten Lebensdaten. Nicht überraschend ist, dass bei den in vielen Gesangbüchern üblichen Angaben des Entstehungsjahres Josef Mohr die Jahreszahl 1818 zugeordnet wird, denn bis 1995 wurde dieses Datum allgemein auch für den Text angenommen.
Der Komponist hingegen wird meist verschwiegen und in der Kopfzeile nur "eigene Melodie" notiert. Insofern unterscheidet sich "Stille Nacht! Heilige Nacht!" nicht von anderen Liedern des Gesangbuchs. Nach der noch bis ins 19. Jh. herrschenden Auffassung ist in der evangelischen Glaubenslehre der Gottesdienst in erster Linie auf das Wort ausgerichtet. Die im Regelfall von der Gemeinde mit Orgelunterstützung gesungene Melodie wird lediglich als Beiwerk angesehen.14 Der Name des Komponisten scheint nicht von Bedeutung. Franz Xaver Gruber teilt also lange Zeit sein Schicksal mit den übrigen zum Teil hochrangigen Komponisten der Kirchenlieder. Als die Erwähnung des Komponisten unter Beifügung des Entstehungsjahres der Melodie zunehmend üblich wird, ordnet man Gruber manchmal das Jahr 1813 zu. Ob dies als patriotische Reminiszenz an die "Völkerschlacht" bei Leipzig zu sehen ist, bedarf einer Klärung. Die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Jahreszahl auch in späteren Auflagen und selbst in dem Salzburg benachbarten Bayern hält, ist jedoch wohl eher auf das auch bei kirchlichen Gesangbüchern anzutreffende Plagiat zurückzuführen.15
Die Bearbeiter und Herausgeber der Gesangbücher wissen, dass es sich bei Josef Mohr um einen katholischen Priester handelt, wie die in vielen Gesangbüchern enthaltenen (Liedtext-)Verfasserverzeichnisse belegen. Diese weisen neben Wegbereitern der Reformation auch lutherisch geprägte Dichter und Schriftsteller aus Barock und Romantik aus. Außer der erst mit 20 Jahren zum katholischen Glauben übergetretenen Pastorentochter Louise Hensel " lange Zeit geistige Gefährtin des romantischen Dichters Clemens Brentano - ist Josef Mohr in der Regel der einzige katholische Textdichter.16 Die konfessionelle Ausnahmestellung des Stille-Nacht-Liedes wird noch deutlicher durch den gelegentlich anzutreffenden Hinweis, dass Louise Hensel ihre angeführten Lieder noch in ihrer evangelischen Zeit geschrieben habe.17Da Komponistenverzeichnisse erst in Gesangbüchern jüngeren Datums auftauchen, ist nicht mehr feststellbar, ob den Bearbeitern Grubers katholische Konfession ebenso erwähnenswert erschienen wäre.
Das Lied ist in den eingesehenen Gesangbüchern ausschließlich mit den drei überlieferten Strophen " 1, 6 und 2 nach dem Mohr-Autograph " aufgeführt. Die von Wolfgang Herbst erstmals aufgeworfene aus theologisch-linguistischer Sicht wichtige Frage, welche Gesangbücher die nach lutherischer Glaubenslehre theologisch inkorrekte Fassung "hochheiliges Paar" verwenden, bedarf einer gesonderten Untersuchung.18 Des Weiteren ist bei den seltenen mit Notenteil versehenen Gesangbüchern oder den separaten Noten-Begleitheften zu fragen, ob die dem Joseph-Mohr-Autograph zugrundeliegende Notation übernommen wurde, eine spätere, eher an Gruber orientierte Fassung oder die auf den Notendrucken der Zillertaler Sänger beruhende Notenschreibung gesetzt worden ist.
Die Suche nach Liedern, die am Anfang oder an einer markanten Stelle die Worte "still" oder "Stille" enthalten, war nur marginal möglich. Auffallend ist, dass im liturgischen Teil sowohl des "Neuen Gothaischen Gesangbuchs für die öffentliche Gottesverehrung und für die häusliche Andacht" von 1836 als auch des "Gesangbuchs für die evangelisch-reformi[e]rte Kirche der deutschen Schweiz" von1897 (genehmigt für die Kantone Zürich, Bern, Aargau, Schaffhausen, Appenzell-Außerrhoden, Basel-Stadt und Basel-Land sowie Freiburg/Fribourg) ein Weihnachtslied des Stadtpfarrers und Schulinspektors in Ulm Christian Ludwig Neuffer (1769-1839) mit dem Titel " Die heiligste der Nächte" verzeichnet ist, dessen Melodie von Hans Georg Nägeli (1773-1836) stammt, dem "Vater des Schweizerischen Männergesangs" in Zürich.19
Frontispiz. Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche des Herzogtums Braunschweig, 1902. Es ist nicht auszuschließen, dass im Zuge des "Kulturkampfes" zwischen Bismarck und der römisch-katholischen Kirche in Deutschland und der zunehmend offensiven Konfessionalisierung der evangelischen Kirchen20 die Kirchenoberen das von zwei Salzburger Katholiken stammende Weihnachtslied zumindest aus dem Liturgie-Teil der evangelischen Gesangbücher zu verbannen versuchten. Am deutlichsten drückt dies noch 1951 das Gesangbuch für die badische Landeskirche aus, in dessen Verfasser-Verzeichnis auf Seite 72 bedauert wird, dass das "sich großer Beliebtheit erfreuende Stille-Nacht-Lied weithin die gehaltvollen evangelischen Weihnachtslieder verdrängt habe".21
Möglicherweise bestanden bei der Akzeptanz von "Stille Nacht! Heilige Nacht!" Unterschiede zwischen den für den Inhalt der Gesangbücher verantwortlichen evangelischen Konsistorialbehörden und ihren Gemeindepfarrern. Dafür spricht das in ein "Hildburghäusisches Gesangbuch für die kirchliche und häusliche Andacht" von 1867 eingeklebte handschriftlich verfasste Blatt. Aufgezeichnet ist das Curriculum für eine evangelische Christ-Vesper, das nach der Verlesung des Lukas-Evangeliums die Darbietung des Liedes "Stille Nacht" durch den Chor vorsieht, welches nach einem kurzen Gemeindegesang auf die Predigt mit Segensspruch einstimmen soll. Der Einsatz des Chors für das heute allgemein geläufige Weihnachtslied ist verständlich, weil die Gottesdienstbesucher in ihrem für den flüssig-würdevollen Gemeinde-Gesang unerlässlichen Gesangbuch das "Stille-Nacht-Lied" vergeblich gesucht hätten.22
Obwohl das handschriftliche Curriculum weder eine Jahresangabe noch einen Verfasser vermerkt, ist davon auszugehen, dass ein Gemeindepfarrer im Herzogtum Sachsen-Meiningen es kurze Zeit nach 1867 angefertigt und in sein eigenes Gesangbuch eingeklebt hat. Unwahrscheinlich ist wohl, dass es von einem Kandidaten des Thüringer Predigerseminars Eisenach, aus dem das Gesangbuch laut Stempeleintragung stammt, erstellt worden ist, denn die in der Bibliothek des Seminars vorhandenen Bücher waren nicht Eigentum der Kandidaten, sondern standen diesen nur für die Vorbereitung zur Verfügung. Ein in der Ausbildung befindlicher Kandidat hätte es kaum gewagt, seine persönlichen Aufzeichnungen in ein entlehntes Buch einzukleben. Andererseits hätte das Bibliothekspersonal ein "vergessenes" Blatt sicher nicht eingeklebt und eine spätere archivarische Sicherung des Fundes durch dauerhafte Verbindung wäre nicht ohne entsprechenden Vermerk geschehen.
Der Besuch im Archiv des Rauhen Hauses brachte für die "Stille-Nacht"-Forschung wichtige Anhaltspunkte. Zum einen sind die vermuteten Aufzeichnungen Wicherns über die Verwendung von Weihnachtsliedern in der sozialpädagogischen Arbeit seines Hauses nicht in Hamburg, sondern wahrscheinlich im Zentralarchiv der Diakonie in Berlin, zu finden.
Zum anderen bietet die Biographie von Wicherns ältester Tochter, Caroline Wichern (1836-1905) Hinweise auf eine Querverbindung zum 1859 von Johannes Brahms gegründeten Frauenchor in Hamburg.
Bei den Vorarbeiten zu ihrem 1984 erschienenen thematisch-bibliographischen Brahms-Werke-Verzeichnis waren die Musikologen Margit und Donald McCorkle unter anderem auf die Partituren- und Stimmhefte der Brahms-Schülerin und Chorsängerin Franzisca Meier (verheiratete Lentz) gestoßen, in denen eine dreistimmige Bearbeitung des Liedes "Stille Nacht! Heilige Nacht!" enthalten war.23 Vor der offiziellen Gründung des Frauenchors hatte Brahms bei seinen häufigen Besuchen in dem an der Elbchaussee gelegenen Landhaus der " ursprünglich aus Schottland stammenden " Hamburger Kaufmannsfamilie Parish aus eigenen und fremden Vokalwerken bereits mit einem ausgewählten Frauenkreis geprobt, zu dem auch die Tochter des Hauses Harriet Parish und deren engste Freundin Caroline Wichern gehörten. Es ist stark zu vermuten, dass Caroline in diesen Kreis das von ihrem Vater herausgegebene und von ihr ergänzte und bearbeitete Liedgut einbrachte.24
Nach dem Tode des von ihr betreuten Vaters im Jahre 1881 gab die musikalisch und gesangspädagogisch ausgebildete Caroline Wichern eine eigene Sammlung von Weihnachtsliedern heraus und wirkte bis 1895 als Gesangslehrerin am Ellerslie-College in Manchester, einer Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen.25
Vieles deutet darauf hin, dass Caroline Wichern neben den Tiroler Sängerfamilien eine zweite Schiene für die Verbreitung des "Stille-Nacht"-Liedes im angelsächsischen Raum gelegt hat.
Eine genauere Untersuchung der vermuteten Zusammenhänge muss der künftigen Forschung vorbehalten bleiben. Ebenso harren noch einige wichtige Gesangbuch-Sammlungen der Sichtung, insbesondere scheint im Magdeburger Landeskirchenarchiv in jüngster Zeit eine Reihe von Archivbeständen zusammengeführt worden zu sein. Diesen Hinweis verdankt die Verfasserin den beiden engagierten Mitarbeitern (im 1-Euro-Job!) Michael Hopt, M.A., und Ulrich Neustadt, M.A., im Landeskirchenarchiv Kreuzkirche in Eisenach. Für die sorgfältige Durchsicht der Gesangbücher im Hinblick auf Positionierung des Stille-Nacht-Liedes und auf verwandte Weihnachtslieder insbesondere mit den Begriffen "still " Stille" kann anhand der bei dieser Forschungsreise gewonnenen Erkenntnisse ein Raster entwickelt werden, das die Bearbeitung der umfangreichen Bestände wesentlich erleichtern und eine ausreichende Quellenbasis schaffen wird.
Die Verfasserin bedankt sich bei den sehr entgegenkommenden und der Stille-Nacht-Lied-Forschung aufgeschlossen gegenüberstehenden ArchivarInnen und BibliothekarInnen des Landeskirchenarchivs Kreuzkirche in Eisenach, der Bibliothek des Predigerseminars Braunschweig, des Rauhen Hauses in Hamburg und des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses in Preetz.
Renate Ebeling-Winkler