Renate Ebeling-Winkler: Het altijd mooie kerstlied… "Stille Nacht! Heilige Nacht!" in den Niederlanden. Teil 1
Die königliche Bibliothek zu Den Haag [Niederländische Nationalbibliothek] verwahrt umfangreiche Bestände von Zeitungen in niederländischer Sprache, die in den Niederlanden, in den ehemaligen Kolonien in Indonesien, Indien und Südamerika (Surinam / holländisch Guayana), in Südafrika und in den USA erschienen sind.
Diese - "Kranten" genannten - Zeitungen wurden für den Zeitraum von 1618 bis 1995 im Volltext digitalisiert und sind im Internet unter http://kranten.kb.nl einsehbar (1).
Die globale Dimension des Erscheinungsgebiets der Zeitungen und die circa viertausend zum Suchbegriff "Stille Nacht, Heilige Nacht" in Zeitungstexten des 20. Jahrhunderts registrierten Einträge (2) machen die "Kranten" zu einem aufschlussreichen Quellenfundus für die Verbreitungsgeschichte des - im Titel zitierten "allzeit schönen Weihnachtslieds" - in vier Kontinenten.
Die Recherchen zu "Stille Nacht" wurden unter folgenden Aspekten durchgeführt:
1. Autoren, Entstehung und Verbreitung.
2. Melodie und Text.
3. Prominente Förderung.
4. Musikalien- und Schallplattenwerbung.
5. Aufführung im Theater, Radio, Film, Konzert und Glockenspiel (Carrillon) sowie in Advents- und Weihnachfeiern.
6. Beschauliche "Stille-Nacht" - Stimmung contra ausgelassene Festtagslaune.
Angesichts der Materialfülle und der damit verbundenen, kaum zu vermeidenden Textüberlänge erscheint eine Aufteilung dieses Artikels als zweckmäßig. Die Punkte eins und zwei werden im ersten Teil des Beitrags in den "Blättern der Stille-Nacht-Gesellschaft" 2013 abgehandelt, der zweite Teil mit den Punkten drei bis sechs wird in einer nachfolgenden Ausgabe des Publikationsorgans der Stille-Nacht-Gesellschaft erscheinen.
1. Die Rezeption zu den Autoren, zur Entstehung und Verbreitung von "Stille Nacht"
In den Niederlanden und ihren Kolonien werden seit 1900 Franz Xaver Gruber als Komponist und Josef Mohr als Textdichter von "Stille Nacht" genannt und die bis 1995 tradierten Erkenntnisse in der Überlieferungsgeschichte in zahlreichen Beiträgen angeführt, ebenso die bekannte irrtümliche Zuschreibung der Urheberschaft an Johann Michael Haydn.
In den USA scheint dieser Kenntnisstand die Niederländischsprechenden erst später erreicht zu haben. Eine Zeitung aus Holland, einem beim Michigansee nahe der kanadischen Grenze gelegenen Zentrum niederländischer Einwanderer, schaltete 1919 eine Anfrage aus Iowa nach dem Text des Gedichts "Stille Nacht, Heilige Nacht" , die aus dem Leserkreis beantwortet werden sollte (3).
Eine surinamische Zeitung berichtet anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Erstaufführung, dass der Volksliedforscher und -sammler Franz Magnus Böhme (1827-1898) in seiner 1895 publizierten Sammlung "Volksthümliche Lieder der Deutschen [im 18. und 19. Jahrhundert]" den in Wasserburg am Inn geborenen Johann Kaspar Aiblinger (1779-1867) als Schöpfer der Melodie bestimmt habe, ein Irrtum, der durch Ludwig Erks Forschung und Franz Xaver Gruber selbst berichtigt worden sei (4). Der als Kapellmeister und Komponist in Bergamo und München wirkende Aiblinger hatte eine Reihe von kirchenmusikalischen Werken geschaffen. Am häufigsten zu hören ist bis heute sein "Bayerisches Militärgebet", das Bestandteil der bayerischen Sonderform des "Großen Zapfenstreichs" ist und bei der Rekruten-Angelobung das "Altniederländische (!) Dankgebet" von 1597 ersetzt hat.
Ein überprüfenswerter Mosaikstein in der Lied-Verbreitung findet sich in einer Nummer des "Rotterdam`schen Neuigkeitenblatts" von 1913: Die fünfte Auflage des Liederbuchs "[Musikalischer] Jugendfreund. [Eine Auswahl von zwei=, drei= und vierstimmigen Gesängen für das mittlere und höhere Jugendalter. Mit Noten]" von 1854 soll eine sechsstrophige "Stille-Nacht"-Fassung enthalten (5).
Die wegen des Ersten Weltkriegs mit sechsjähriger Verspätung in Oberndorf veranstaltete 100-Jahr-Feier im August 1924 verunsicherte niederländische Zeitungsredakteure in Bezug auf Entstehungszeitpunkt und Erstaufführungsort. Ungefähr ein Jahrzehnt lang galt der 15. August 1824 als Entstehungsdatum und die Arnsdorfer Kirche als Ort des Gesangvortrags von Mohr und Gruber (6).
Das angeblich auch in einer Brockhaus-Nachkriegsedition vermerkte Entstehungsjahr 1824 dürfte die erkennbare Verwirrung noch verstärkt haben (7).
Das Interesse niederländischer Zeitungen an Neuigkeiten aus der salzburgischen Entstehungsregion des Weihnachtslieds bleibt durchgehend konstant, die dabei auftretenden geographischen Unebenheiten und die vermeintliche Allein-Autorenschaft Mohrs sind vernachlässigbar. Bereits vier Jahre vor der Anbringung des Mohr-Gruber-Reliefs an der neuen Oberndorfer Kirche erfuhr die niederländische Leserschaft, dass die Errichtung eines Denkmals für den "1792 zu Salzburg in Tirol" geborenen "Stille-Nacht"-Komponisten Josef Mohr geplant sei (8), und wurde 1927 daran erinnert, dass es in "Oberndorf in Baiern" aufgestellt werde (9). Im Juli 1935 stand Paul Denglers erfolgreiche österreichisch-salzburgische Kulturmission in den USA im Mittelpunkt der Berichterstattung im Mutterland und in Indonesien. Der Autor, Schulreformer und Direktor des "Amerika-Instituts" in Wien hatte einen Vortrag über Franz Xaver Gruber in Los Angeles vor Lehrern gehalten, die spontan eine Spendensammlung für die heute links neben dem Eingang zum Stille-Nacht-Museum in Hallein angebrachte Gruber-Gedächtnistafel veranstalteten (10).
Eingebettet in Beobachtungen zu den Salzburger Festspielen erschien die Nachricht über die Einweihung der Stille-Nacht-Gedächtnis-Kapelle zu Oberndorf am 15.08.1937.
In den Abschnitten Liedentstehung und -verbreitung griff man auf die bekannten korrekten Fakten zurück (11) und würdigte im November des Jahres den 150. Geburtstag des Komponisten (12).
Zwei Monate vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die neutralen Niederlande, brachte das Leidener Tagblatt im März 1940 in der Rubrik "Vermischtes" einen kurzen Abriss der Geschichte über die Liedschöpfung durch Mohr und Gruber, den Weg des Liedes von Oberndorf ins Zillertal, weiter nach Leipzig und Berlin, den vermuteten Komponisten Johann Michael Haydn und die Korrektur des Fehlers durch Franz Xaver Gruber (Sohn) (13).
Während der deutschen Besetzung wurde die "Stille-Nacht"-Geschichte zum Zweck verdeckter ideologischer Agitation inhaltlich ausgeweitet und in einer Weihnachts-Illustration offen sichtbar nach der NS-Diktion "aufgenordet" (14).
Nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität setzte die niederländische Tagespresse in der Advents- und Weihnachtszeit die Informationen zum "weltberühmtesten" Weihnachtslied in der gewohnten Weise fort.
Die Herausgabe der Mohr-Gruber-Briefmarke "130 Jahre Stille Nacht, Heilige Nacht" im Jahr 1948 bot den passenden Anlass, um die unmittelbare Verbindung zu Österreich erneut herzustellen (15). Zwei Jahrzehnte später kündigte das Amsterdamer Blatt "De Tijd (Die Zeit)" bereits im Herbst an, dass im Gedenken an den "Stille-Nacht"-Erstvortrag ein großes Friedensfest in Salzburg am 21.12.1968 gefeiert werde (16).
Unter der im Gruberjahr 2013 besonders aktuell anmutenden Überschrift "Franz Gruber schrieb mehr als `Stille Nacht`" berichtete am 24.12.1958 der Leeuwarder Courant von den Plänen des Arnheimer Chordirigenten Peter Franken, seine Chor-Bearbeitung der als
"Deutsche Singmesse" bekannten Weihnachtsmesse von Gruber zum ersten Mal in der lutherischen Kirche in Arnheim aufzuführen. Die Anregung kam von einem Peter Franken offenbar wohlbekannten Indonesien-Heimkehrer österreichischer Herkunft namens Blass,
der zu Kolonialzeiten in Indonesien beim Rundfunk gearbeitet hatte. Leider tauchen weder Peter Franken noch Blass in der einschlägigen niederländischen Literatur auf. Auch konnte die Verfasserin bisher keinen Bericht über die tatsächliche Aufführung finden. Hier könnte
nur ein Besuch in den Arnheimer Archiven Aufklärung bringen.
Eine Spur führt jedoch direkt nach Hallein. Der Reporter schreibt, dass sich der Arnheimer Chorleiter mit einer schriftlichen Bitte an den Bürgermeister der Salinenstadt gewandt und Kopien von Manuskripten aus dem Gruber-Museum erhalten habe. Dieses "Rohmaterial",
so habe ihm der Arnheimer Dirigent Franken gesagt, sei von ihm für Chor bearbeitet worden. Außerdem sei eine Orgelbegleitung unter Verwendung von Motiven aus "Stille Nacht" hinzugefügt worden (17).
Die Präsenz von "Stille Nacht" im Bewusstsein niederländischer Medien hat für so manch eine Stille-Nacht-Gemeinde unbezahlbare Öffentlichkeitsarbeit geleistet, wie ein Beispiel veranschaulichen mag: Unter der schlichten Überschrift "Wagrain" weist das demokratisch-sozialistische Tagblatt "Het vrije Volk" auf die von TELEAC, dem niederländischen Schul- und Bildungsfernsehen, im Oktober 1984 beginnenden Deutsch-Kurse für Anfänger hin. Um das Interesse seiner Leser an diesen Kursen zu steigern, wird der österreichische Ferienort Wagrain als Drehort erwähnt, nicht ohne den gezielten Hinweis, dass der ausgewählte Drehort wegen des Weihnachtslieds und seiner Schöpfer weltbekannt sei (18).
Fast ein Jahrhundert lang haben die "Kranten" ihr Publikum sorgfältig und ausführlich mit erstaunlich wahrheitsgetreuen Informationen zu den Autoren sowie zur Entstehung und Verbreitung von "Stille Nacht" versorgt und sich damit einen bleibenden Anteil an der internationale Wertschätzung des Liedes gesichert.
2. Melodie und Text von "Stille Nacht" in den "Kranten"
Im untersuchten Zeitraum, dem 20. Jahrhundert, vermisst man in den "Kranten"-Texten zum Thema "Stille Nacht, Heilige Nacht" den musikwissenschaftlichen Diskurs zu und den vollständigen Abdruck von Autographen, Notendrucken und Melodie-Varianten. Die Präsentation der ersten vier Takte aus dem Faksimile von Grubers `Hornfassung`
(Autograph V) im Amsterdamer "Telegraaf" sollte wohl die Lust auf das Ganze wecken und zum Kauf der Reproduktion animieren. Otto Erich Deutsch hatte diese 1937 für den Herbert-Reichner-Verlag in Wien besorgt (19).
Da die Zeitungen ebenso auf die ungekürzte Wiedergabe des drei- bzw. sechsstrophigen Originaltexts auf Niederländisch, Friesisch oder Deutsch verzichten, stellt sich die Frage nach dem Grund für diese Unterlassung. Eine Erklärung dafür könnte in Zusammenhang mit einer Nebentätigkeit stehen, die namhafte Presseorgane als Kommissionshändler für Musikalien ausübten. Bereits um 1900 priesen Zeitungen in anderen Blättern Noten- und Textmaterial von gängigen Weihnachtsliedern an, so auch von "Stille Nacht, Heilige Nacht", ohne die Melodie-Fassung anzugeben, auf der die Klavier-, Orgel- oder Harmoniumbegleitung fußte (20).
Der "Stille-Nacht"-Liedsammler Reinier Thiesen, Mitglied und Gewährsmann der Stille-Nacht-Gesellschaft in den Niederlanden, hat in seinem Beitrag "`Silent Night! Holy Night!` in the Dutch Language" (Blätter der Stille-Nacht-Gesellschaft 2009, S.6/7) ausgeführt, dass in den Niederlanden zahlreiche gedruckte und viele ausschließlich gesungene Textvarianten existierten, von denen nur wenige als wörtliche Übersetzungen des deutschsprachigen Originals bewertet werden könnten, und dass selbst die kleine friesische Sprachgemeinschaft fünf Textvarianten nutze, von denen nur zwei schriftlich aufgezeichnet seien.
Offensichtlich existieren also mehr Bearbeitungen in niederländischer oder friesischer Sprache als textgenaue Übersetzungen. Diese Tendenz zeigt sich auch in den "Kranten".
Eine beachtliche Zahl von Zeitungslesern und -leserinnen benutzte den "Stille-Nacht"-Text, um sich im Verfassen von Lyrik zu schulen, wobei einige Wörter und Wendungen aus dem Mohr-Text direkt übernommen werden:
Stille nacht, Heilige nacht!
Lieve Jezus, o hoe lacht
Liefde ons tegen uit Uw mond,
"Vrede op aarde!" weerklinkt in het rond.
Heil U, o heil U, o Heer!
Wij knielen hier voor U neer. (21)
Stille Nacht, Heilige Nacht!
Lieber Jesus, o wie lacht
Liebe uns entgegen aus Deinem Mund,
"Friede auf Erden!" erklingt in der Runde.
Heil Dir, o Heil Dir, o Herr!
Wir knien hier vor Dir nieder.
In der Vorweihnachtszeit scheint die Einsendung von Text-Umdichtungen an Zeitungsredaktionen ein verbreiteter Brauch gewesen zu sein, so dass sich diese mitunter gezwungen sahen, die zuströmende Text-Flut an die Konkurrenz zur Begutachtung weiterzuleiten (22).
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wurde der Gedicht-Titel "Stille Nacht, Heilige Nacht" als Synonym für die Christnacht verstanden. Überschrift und Melodie gemeinsam dienten aber auch als Meditationsformel, die sensiblen Menschen einen Vorstoß zum Kern ihres inneren Wesens ermöglichte und sie der "Kerstmis-mystiek" (Weihnachtsmystik) näher brachte.
Ein Kolonialbeamter, der 1927 in den indonesischen Tropen in seiner Station allein den Dienst versah und am Radio drehte, um einen Sender zu finden, beschrieb seinen Weg zum Erlebnis der "Weihnachtsmystik" folgendermaßen:
"Stille Nacht, Heilige Nacht ...
Und der Zuhörer sitzt bewegungslos da, die Hand unter dem Kinn.
Er hört und saugt das Lied ein wie ein Kranker eine schmerzstillende Medizin,
wie ein verletztes Kind das Trostwort seiner Mutter.[...]
So müssen einst die Hirten, einsam verloren in der nächtlichen Stille
auf den Feldern vor Bethlehem, dem himmlischen Gesang in unbekannter Ferne gelauscht haben [...] (23)
Knapp vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Sehnsucht nach dem spirituellen Empfinden der mystischen Weihnachtsstimmung aus Friedenszeiten geradezu beschwörend thematisiert, wie Marijke de Jongs Gedicht "Kerstmis" aufzeigt, das in die erste Nummer der literarischen [Untergrund-]Zeitschrift "Parade der profeten" aufgenommen wurde:
Peinzend staarde in de donkere Kerstnacht en
luisterde naar het geluid van vele
haastige voetstappen onder mijn venster:
Toen heb ik in weemoedig verlangen geschreid
om Kerstmis van voorbije tijd,
om ,t sprookje van Jesu, de stal en de ster,
de herders en de drie wijzen «van zo heel ver»,
om de zachte muziek
en het diepe mystiek
van het stille nacht, heilige nacht. (24)
Nachdenklich starrte ich in die dunkle Christnacht und
lauschte dem Geräusch von vielen
hastigen Schritten unter meinem Fenster:
Danach habe ich in wehmütigem Verlangen
nach dem Weihnachten von früher gerufen, nach dem
Märchen von Jesu Geburt, dem Stall und den Sternen,
den Hirten und den drei Weisen, "von so weit her",
nach der leisen Musik
und der tiefen Mystik
von der stillen Nacht, heiligen Nacht.
In diesem Gedicht fällt die zentrale Bedeutung einer religiös-literaríschen Metapher auf: das Bild der umherlaufenden Herde ohne den Hirten. Das literarische Ich kann ein durch hastige Schritte hervorgerufenes Geräusch zunächst nur akustisch wahrnehmen. Erst nach einem Prozess der inneren Reflexion erschließt es sich der Sprecherin bildhaft. Die rheinhessische Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899-1950) leitet ihren zeitgleich entstandenen Prosatext "Im Einklang" ebenfalls mit dieser Metapher ein (25).
In der Arbeiterpresse wählten "Stille-Nacht"-Text-Bearbeiter explizit die Überschrift als Aufmacher für ihre Kritik an gesellschaftlichen, sozialen und politischen Zuständen. Die erste Strophe von "Oproerige Krabbels. Stille Nacht (Aufrüherische Anmerkungen. Stille Nacht)" beklagt die Millionen Toten des Ersten Weltkriegs:
Stille nacht. Heilige nacht ...
Kindje Jezus, nader zacht.
Hoor millionen menschen schreien.
Zie de lange dooden-rijen.
En het bloed, dat d`aarde drenkt;
Zie de menschheid, die gedenkt,
Dat Gij ons den V r e d e bracht ...
Stille nacht, Heilige nacht. (26)
Stille Nacht, Heilige Nacht ...
Jesuskind, komm leise näher,
Hör Millionen Menschen schreien.
Sieh die langen Toten-Reihen.
Und das Blut, das die Erde tränkt(e);
Sieh die Menschheit, die gedachte
Dass Du uns den F r i e d e n bracht(est)...
Stille Nacht, Heilige Nacht.
Das soziale Elend der Arbeitslosen und ihrer Familien wird in der dritten Strophe einer Weihnachtsliedbearbeitung ("Kerstlied. Nagekomen") drastisch geschildert:
Stille nacht, heilige nacht.
Hoort ge ginds die afgrijselijke klacht:
Vader geen werk, en daarem geen brood;
,t Werkmannsgezin verkeert in bittere nood,
Voor hen is ,t geen vrede op aarde. [...] (27)
Stille Nacht, heilige Nacht.
Hört ihr in der Ferne das grauenvolle Klagen:
Vater hat keine Arbeit und darum kein Brot;
die Arbeiterfamilie lebt in bitterer Not,
Für sie gibt es keinen Frieden auf Erden. [...]
Ein Bericht aus der in Basel erscheinenden "Arbeiterzeitung" bildete den Rahmen für die ausführliche Information in niederländischer Sprache über eine politische Aktion saarländischer Bergarbeiter. Die auf Hochtouren laufende Rüstungsindustrie benötigte immer größere Kohlelieferungen, so dass der für das Saarland zuständige Gauleiter, Josef Bürckel, zwischen Weihnachten und Neujahr 1937 für alle unter Tage Arbeitenden die Arbeitspflicht an Sonn- und Feiertagen anordnete. Die auf Holländisch (!) mit Kreide an die beladenen Kohlewaggons geschriebene Parole
"Stille Nacht, heilige Nacht,
Bürckel heeft ons de Zondagsarbeid gebracht"
Stille Nacht, heilige Nacht,
Bürckel hat uns die Sonntagsarbeit gebracht
begleitete die Protestaktion der Kumpel gegen diese Maßnahme (28).
Abschließend ist noch die therapeutische Funktion zu erwähnen, die Text, Text-Bearbeitung und Melodie auf Menschen in physischen und psychischen Ausnahmesituationen auszuüben ermögen. Ein groß aufgemachter Bericht des "Telegraaf" über die Bergung des unter Flagge
des "Norddeutschen Lloyd" fahrenden und vor der Insel Wight in Seenot geratenen deutschen Frachters "Witram" sollte in erster Linie die bekannte Überlegenheit der niederländischen Hochseeschlepper und das hervorragende Können ihrer Besatzungen zeigen. Als Angehörige
einer Seefahrernation erwarteten die Leser vom Journalisten eine mitfühlende Schilderung der Umstände, unter denen die Besatzung auf ihrem havarierten Schiff ausharren musste.
Der schlingersicher an der Decke der Mannschaftsunterkunft aufgehängte Christbaum zeigte die Dramatik der Sturmnacht und die Hilflosigkeit gegenüber den Naturgewalten. Denen wollte die Besatzung trotzen. Also feierte sie Weihnachten wie gewohnt. Singen konnte gegen die Angst helfen, dem Tag entsprechend wurden Weihnachtlieder gesungen.
So wird es die gerettete Mannschaft dem Reporter berichtet haben. Dem fiel beim Niederschreiben aber nur ein Lied ein, durch seine Bekanntheit in den Niederlanden in seinem Kopf verankert: "Stille Nacht, Heilige Nacht". Nur dieses Lied konnte in einer solchen Situation Kraft und Trost zugleich spenden (29).
Ein kurioses Beispiel für die entkrampfende Wirkung des Lieds in angespannten Situationen wird aus der Zeit der politischen Spannungen zwischen der UDSSR und China in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kolportiert: Mitglieder einer europäischen Reisegruppe wurden verdächtigt, russische Spione zu sein. Sie wurden aufgefordert, ein Lied zu Ehren Mao-Tse-Tungs zu singen, um ihre pro-chinesische Haltung zu demonstrieren. In seiner Not sang ein Franzose "Stille Nacht, Heilige Nacht", das als Lied für Mao akzeptiert wurde und zur Freilassung führte (30). Bei der Beliebtheit und der Verbreitung des "Stille-Nacht"-Liedes im China der Jetztzeit ist es allerdings fraglich, ob das Lied auch heute noch diese Wirkung zeigen und als Huldigung an einen "Großen Vorsitzenden" durchgehen würde.
Renate Ebeling-Winkler