Wolfgang Herbst: „Holder Knabe im lockigen Haar“

Das Jesuskind und seine Frisur.

Es geschah im Winter 1816 in dem 1120 m hoch gelegenen Wallfahrtsort Mariapfarr im Salzburgischen Lungau. Dem 24 jährigen Coadjutor (Hilfspriester) Joseph Mohr war nach Abschluss des Studiums seine erste Stelle an der dortigen Pfarrkirche Unserer Lieben Frau zugewiesen worden, und dort oben im Gebirge schuf er – wie wir seit dem Auffinden eines Mohr-Autographs 1995 wissen – sein Weihnachtsgedicht mit sechs Strophen, das mit den Worten „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ beginnt. Nur reichlich ein Jahr blieb Mohr in Mariapfarr, denn ihm scheint die Gebirgsluft nicht gut getan zu haben, so kehrte er in seine Heimatstadt Salzburg zurück und übernahm eine Stelle im nahen Oberndorf. Dort begegnete er dem Arnsdorfer Lehrer Franz Xaver Gruber, der an der St. Nicola-Kirche in Oberndorf die Orgel spielte. Ihm gab Mohr den Text seines Weihnachtsgedichtes aus Mariapfarr, und Gruber schuf vor Weihnachten 1818 dazu eine Melodie im Stil eines sizilianischen Pastorale, wie es in der europäischen Weihnachtsmusik eingebürgert war. Beide führten das Lied in St. Nicola im Anschluss an den Weihnachtsgottesdienst vor der Krippe zum ersten Mal auf und sangen zweistimmig zu Mohrs Gitarrenbegleitung.

Was zunächst gar nicht aufgefallen war baute sich aber allmählich zu einem Problem auf: In der ersten Strophe des Stille-Nacht-Liedes heißt es nämlich von dem Jesuskind: „Holder Knab’ im lockigten Haar“. Schon im späten 19. Jahrhundert hat man diesen Gedanken als nebensächlich, theologisch oberflächlich oder banal bezeichnet und als Beispiel einer blassen, inhaltsarmen Frömmigkeit angesehen. Die Ablehnung kam aus unterschiedlichen Lagern. Katholische Theologen zogen dagegen ebenso zu Felde wie evangelische. Der Mainzer Domkapellmeister Georg Weber kritisierte 1897, das Lied sei religiös und christlich ohne klare Aussage und nichts anderes als ein weltliches Schlummerlied. Wer so über die Haarpracht des neugeborenen Jesus spricht, der beweist nach Meinung Webers, „dass er weder fähig ist, das Weihnachtsgeheimnis zu erfassen, noch es auch zu besingen“.

In Horn bei Hamburg wirkte damals der lutherische Pastor und Gründer der Inneren Mission, Johann Hinrich Wichern. Ihm verdanken wir die heutige Fassung des Stille-Nacht-Liedes. Den Namen Jesus hat Wichern nach protestantischem Brauch geändert in „Christ“ („Christ in deiner Geburt“, „Christ, der Retter ist da“). Zunächst behielt er aber die Gedanken vom „hochheiligen Paar“ und vom „Knaben im lockigen Haar“ unverändert bei. In der Erstausgabe seines Liederheftes für das „Rauhe Haus“ 1844 nahm er daran noch keinen Anstoß. Aber im Laufe der Jahre kamen ihm angesichts der geschilderten Frisur des Kindes Bedenken. Der Leiter der diakonischen Anstalten in Kaiserswerth Pfarrer Theodor Fliedner, hatte in seinem „Liederbuch für Kleinkinderschulen“ schon 1842 einen anderen Text für die erste Strophe angeboten. Darin heißt es:

Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das heilige Elternpaar,
Das im Stalle zu Bethlehem war,
Bei dem himmlischen Kind,
Bei dem himmlischen Kind.

In der letzten von ihm selbst besorgten Ausgabe des Hamburger Liederheftes 1877 übernahm Wichern als kleingedruckten Alternativvorschlag den Text seines Kollegen Fliedner, in dem der lockige Knabe ebenso wie das hochheilige Paar vermieden wurde. Dabei entstand allerdings ein neues Problem. Dass aus dem „hochheiligen Paar“ einfach nur „Eltern“ wurden, widersprach katholischer Volksfrömmigkeit, obwohl das Wort im Lukasevangelium ausdrücklich auf Vater und Mutter Jesu angewendet wird. Joseph war spätestens nach dem Entstehen der Legende von der Jungfrauengeburt als Elternteil undenkbar. Er durfte bei der Huldigung der drei Könige bestenfalls hinter einer Wand versteckt heimlich zuschauen wie auf dem Altarbild von Mariapfarr (Abb. 1).

Im lutherischen Sachsen oder im liberalen Bremen hatte sich niemand an der Originalfassung von „Stille Nacht“ gestört, da durfte das Paar hochheilig und der Junge lockig sein. Für einen Teil des Protestantismus ist jedoch die Darstellung Jesu als eines lockigen Knaben im Laufe der Zeit deutlich unangenehmer geworden als die Bezeichnung der Eltern als hochheiliges Paar. Richtig obsolet wurde die Frisur des Jesusknaben aber erst im Zuge der Jugend- und Singbewegung des 20. Jahrhunderts bis hin zur Studentenbewegung um 1968. Die Babyfrisur wurde als Ausdruck von Sentimentalität und Sehnsucht nach einer „heilen Welt“ verstanden, und dieser Gedanke wirkte damals nicht tröstlich, sondern eher bedrohlich, weil man darin Konfliktscheu und Verdrängung sah.

Aber war es denn wirklich nötig, das Kind in der Krippe mit lockigem Haar zu versehen? Sollte es dadurch vielleicht besonders niedlich aussehen? Von alledem ist doch in den biblischen Geschichten oder in der weihnachtlichen Liturgie an keiner Stelle die Rede. Wir wissen heute, dass sich Joseph Mohr das nicht selbst ausgedacht hat, etwa um romantisch-sentimentale Wirkungen zu erzielen. Er legte sein Lied nicht auf Publikumserfolg an und setzte den Gedanken mit dem Lockenhaar nicht als Mittel ein, um gefühlvolle Menschen gezielt zu beeindrucken. Es war im alten Erzstift Salzburg schon seit Jahrhunderten klar, dass das Jesuskind Lockenhaar haben musste, und zwar blondes oder gar goldenes. So wird auch in unserem Weihnachtslied das kleine Baby Jesus aus dem Vorderen Orient ins Salzburger Land versetzt und mitsamt seinen Eltern in die fromme Darstellungsweise des bayerisch-österreichischen Raumes eingebettet. Dort wurde das Kind auf Altarbildern und Votivtafeln fast immer als blonder lockiger Knabe auf dem Arm seiner Mutter abgebildet, oft in prächtigen Gewändern und festlich gekrönt. Die Vorstellung, der Jesusknabe müsse lockiges Haar gehabt haben, ist gerade in Mariapfarr schon sehr früh nachzuweisen. Auf der Südseite am Pfeiler des Chorturmgevierts gegenüber der Kanzel befindet sich der Gemeinde zugewandt ein romanisches Fresko, das erst 1946 freigelegt wurde. Es zeigt den Jesusknaben mit lustigen Ringellocken auf dem Schoß seiner Mutter wie er die Huldigung der drei Könige entgegennimmt (Abb. 2). In derselben Kirche gibt es noch heute am Hochaltar jenes spätgotische Tafelbild, das ebenfalls die Anbetung des üppig blond gelockten Kindes durch die drei Könige zeigt. Aber Joseph Mohr hatte ja nicht nur in der großen romanisch-gotischen Hauptkirche von Mariapfarr die Messe zu lesen, sondern auch in den Filialen oder Nebenkirchen, die zur Pfarre gehörten und von ihr aus geistlich betreut wurden. In der kleinen barocken Rundkirche St. Laurenzen zu Althofen, fünfzehn Minuten zu Fuß hinab ins Tal, stand er vor einem prächtigen Hochaltar mit dem lockigen Jesuskind. In der Kirche St. Andrä grüßte ihn eine Muttergottes mit dem lockigen Kind, und in dem Kirchlein St. Rupert zu Weißpriach am Westhang des Fanningberges ging Mohr, wenn er auf die Kanzel stieg, genau auf ein Madonnenbild mit lockigem Knaben zu, das die Rückwand der Kanzel schmückte. Die Frisur des Kindes erscheint damit in einem anderen Licht, denn Mohr hat in seinem Gedicht nur beschrieben, was er täglich sah und was als Jesusdarstellung üblich und selbstverständlich war. Sein Lied bringt deshalb die einfache Botschaft: Das Weihnachtskind kennen wir von unseren Kirchen und Altären. So, wie wir es dort sehen, gehört es zu uns und wir zu ihm. Bis heute wird im Weihnachtsgottesdienst von Mariapfarr die kleine Figur des blond gelockten Jesuskindes in einer Prozession hereingetragen, von der Gemeinde freudig begrüßt und in die festlich aufgebaute Weihnachtskrippe gelegt. So ist die Darstellung des Jesuskindes mit seinen Locken nichts anderes als eine Liebeserklärung der frommen Gemeinde an ihren Herrn, wie sie ihn von ihren Kirchen kennt. Deshalb muss auch der holde Knabe im Weihnachtslied lockiges Haar haben. Er trägt es mit Würde – und mit Humor.

Prof. Dr. theol. Wolfgang Herbst

Fresko in Mariapfarrc Wolfgang Herbst

Romanisches Fresko

Tafelbild am Hochaltar in Mariapfarrc Wolfgang Herbstjpg

und Tafelbild am Hochaltar der Basilika in Mariapfarr. Bilder: Wolfgang Herbst


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